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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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enthielten Pillen, einer gelbe, der andere grüne. Sie waren mit Buchstaben und Zahlen bedruckt – OC   40 und 80 .
OxyContin.
    Er war also ein
Dealer
 – und zwar ein ziemlich armseliger, wenn man bedachte, dass er gerade eine Leibesvisitation verschlief. Ich steckte die Pillen in die Tasche zurück und stand auf.
    »Kannst du mich hören, Scarface?«
    Er antwortete nicht.
    »Hände hoch! FBI !«, brüllte ich.
    Nichts.
    So sanft es ging – auch wenn ich nicht sagen kann, warum ich mir die Mühe machte; er hätte sogar den Weltuntergang verpennt – rollte ich ihn auf die Seite und zog das Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche. Kein Führerschein, keine Kreditkarten, nur
Cash
 – siebenhundertvierzig Dollar, hauptsächlich Zwanziger.
    Ich steckte das Geld und das Portemonnaie zurück, doch sein iPhone verstaute ich in meiner Tasche. Dann ging ich an ihm vorbei, um mir den Aufzug anzusehen.
    Dort war nichts, außer den dunklen Pfützen getrockneten Blutes. Ein paar Ausläufer waren in die Risse im Zement gesickert.
    Ich machte einige Fotos und ging zurück zu dem Jungen, um seine Atmung zu überprüfen. Er schien nur
betrunken
zu sein – nichts anderes genommen zu haben. Ich brachte ihn noch mehr in Seitenlage, damit er nicht erstickte, falls er sich übergab. Dann ging ich zurück zum Fenster, kletterte hinaus und eilte durch den Durchgang zurück zur Mott Street.
    Ich nahm an, dass ich bis zum nächsten Tag nichts mehr über ihn erfahren würde, wenn er bemerkte, dass sein Telefon weg war. Doch als ich im Taxi nach Hause saß, und noch Stunden später, nachdem ich geduscht und zwei Paracetamol geschluckt hatte (angesichts der gewaltigen Schmerzen, die mir Beckmans Wodka und der Schlag auf den Kopf bereiteten, hätte ich eine von den OxyContin einstecken sollen), wurde sein Telefon mit Nachrichten bombardiert.
    Wo bist du?
    Das war Chloe. Sie schrieb sechs Minuten später wieder.
    WauDi seit 2 h wtf???
    Dann kam Reinking (von ihr hatte ich automatisch ein Bild vor Augen: nordischer Typ, Beine wie Eispickel):
    john is weg komm her
    Zwei Minuten später:
    ich will dich
    Zwölf Minuten später:
    bin so heiß auf dich. bist du schon unten?
    Dann schickte sie ein Bild von sich, das ich nicht öffnete. Darauf folgte:
    hallo? bist du da??
fuck u
    Dann kam eine Nachricht von Arden:
    unterwegs? komm zu jimmy’s
    Zwischendurch rief ein ausgesprochen zwanghaftes Mädchen namens Jessica elf Mal an. Ich ließ die Mailbox drangehen.
    Dann wieder Arden:
    Hopper wo steckst du
    Das musste sein Name sein.
Hopper.
    Ein kleiner Drogendealer in einem verwaschenen Mantel, der in dem Lastenaufzug in der Ecke hockt – er würde mir etwas über Ashley erzählen können, wer auch immer er war.

11
    »Hallo?«, meldete ich mich. Am anderen Ende hörte ich das Klappern von Tellern.
    »Hey, Sie haben mein Telefon gefunden.«
    »Hab ich.« Ich trank einen Schluck Kaffee.
    »
Cool.
Wo denn?«
    »Hinten im Taxi. Ich bin im West Village. Wollen Sie es abholen?«
    Zwanzig Minuten später klingelte es. Ich zog die Vorhänge im Wohnzimmer zur Seite. Vom Fenster aus konnte ich die Haustreppe einsehen. Da stand er,
Hopper
: Er trug denselben Mantel wie gestern Nacht, dieselben verwaschenen Jeans und Chucks. Er rauchte eine Zigarette, die Schultern hatte er wegen der Kälte hochgezogen.
    Als ich ihm öffnete, bemerkte ich im hellen Tageslicht, dass er trotz der fettigen Haare, der vom Trinken eingefallenen Augen, der
Frauen
 – wer weiß, was noch –, ein hübscher Junge war. Ich weiß nicht, wieso mir das zuvor entgangen war. Es war so sichtbar wie ein silbernes Silo, das am Horizont aus den Maisfeldern heraussticht. Er war ungefähr 1 , 78 Meter, ein gutes Stück kleiner als ich, schmächtig, mit einem ungepflegten Dreitagebart und dem knochig schönen Gesicht eines dieser grüblerischen 1950 er Jahre Schauspieler, denen, die heulen, wenn sie trinken, und die jung sterben.
    »Hallo.« Er lächelte. »Ich komme wegen meines Telefons.«
    Er konnte sich ganz offensichtlich nicht an die letzte Nacht erinnern; er sah mich an, als hätte er mich noch nie gesehen.
    »Klar.« Ich trat zu Seite, um ihn einzulassen. Er sah mich kurz prüfend an, kam offenbar zu dem Schluss, dass ich ihn nicht angreifen würde, schob die Hände in die Manteltaschen und kam herein. Ich schloss die Tür, ging ins Wohnzimmer und zeigte auf sein iPhone auf dem Couchtisch.
    »Danke, Mann.«
    »Kein Problem. Also, was hast du in dem Lagerhaus gemacht?«
    Er wirkte

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