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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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musste, durfte sie wieder zu uns anderen ans Lagerfeuer zurückkehren.«
    Er lächelte, sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Dann schüttelte er den Kopf, zündete die Zigarette an und atmete aus.
    »In der ersten Nacht, die sie wieder da ist, wachen alle um drei Uhr auf, weil Hawk Feather schreit, als würde er abgestochen. Er rennt in Unterwäsche aus seinem Zelt. Der fette Sack stammelt wie ein Kind und heult, da sei eine Klapperschlange in seinem Schlafsack. Alle dachten, das sei ein Witz, dass er schlecht geträumt hatte. Aber eine der Betreuerinnen, Four Crows, holte den Schlafsack heraus, öffnete vor unseren Augen den Reißverschluss und schüttelte den Schlafsack aus. Und tatsächlich fiel eine Klapperschlange, 1 , 20 Meter lang, auf den Boden, fegte durch unser Lager und verschwand in der Dunkelheit. Hawk Feather war weiß wie eine Wand und zitterte noch immer. Er drehte sich um und starrte direkt Ashley an. Sie starrte zurück. Er sagte kein Wort, aber ich weiß, dass er glaubte, sie habe die Schlange da hineingesteckt. Wir alle glaubten das.«
    Er verstummte einen Augenblick, lehnte sich zurück und stierte in den Raum.
    »Von da an ließ er uns in Ruhe. Und Orlando?«, er schluckte. »Der hat’s geschafft. Sein Sonnenbrand verheilte. Er hörte auf zu heulen. Er wurde eine Art
Held
.« Er schniefte und rieb sich die Nase. »Als wir es endlich zurück ins Ausgangslager geschafft hatten, sollten wir eigentlich einen Abend zusammen verbringen, Händchenhalten und uns darüber freuen, was wir geleistet hatten – aber es ging eher darum, Gott zu danken, dass wir noch lebten. Es war wirklich so. Die ganze Zeit hatte man das Gefühl, man könnte draufgehen. Als würde der Tod hinter den Felsen auf uns warten. Und verhindert hat das Ashley.«
    Er verstummte. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen – er starrte auf den Boden, die Haare hingen ihm ins Gesicht. »Ungefähr eine Stunde vor dem Abendessen«, fuhr er fort, »sah ich aus dem Fenster der Hütte, wie sie in einen schwarzen SUV stieg. Sie reiste früher ab. Ich war ein bisschen enttäuscht. Ich hatte vorgehabt, mit ihr zu reden. Aber es war zu spät. Ein Fahrer holte ihre Sachen, packte sie in den Kofferraum, und sie fuhren los. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
    Er hob den Kopf und sah mich herausfordernd an, sagte aber nichts.
    »Du hast nie wieder von ihr gehört?«
    Er schüttelte den Kopf und zeigte mit der Zigarette auf den Umschlag in meiner Hand.
    »Nicht bis
das
kam.«
    »Woher weißt du, dass sie das geschickt hat?«
    »Das ist ihre Handschrift. Und die Absenderadresse ist …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, sie will mich verarschen. Gestern Abend bin ich da eingebrochen, um zu sehen, ob da irgendeine Nachricht oder ein
Zeichen
war. Aber ich habe nichts gefunden.«
    Ich hielt den Affen hoch. »Welche Bedeutung hat das?«
    »Den habe ich noch nie gesehen. Hab ich doch gesagt.« Er drückte seine Zigarette aus.
    »Du hast keine Idee, warum sie ihn geschickt haben könnte?«
    Er starrte mich zornig an. »Ich hatte gehofft,
du
hast eine Idee. Du bist doch der Reporter.«
    Der rote Lehm, der an dem Stofftier klebte, sah aus wie die Sorte, die man im Westen finden konnte, zum Beispiel in Utah. Deshalb fragte ich mich, ob das Tier möglicherweise einem der Jugendlichen im Camp gehört hatte – vielleicht sogar Hopper selbst. Doch so wie er aussah, würde er eher eine abgegriffene Ausgabe von
On the Road
mitnehmen, um sich daran festzuhalten.
    Sein Einblick in Ashleys Charakter hatte mich überrascht. Seine Schilderung hatte mir ermöglicht, sie mir einen Augenblick lang genau vorzustellen, als eine Art grimmigen Racheengel, eine Person, die der Art, wie sie Musik spielte, genau entsprach. Ich konnte nicht begreifen, warum sie Hopper an dem Tag, an dem sie starb, den Affen geschickt hatte –
falls
sie es getan hatte.
    Hopper schien gereizt zu sein. Er saß mit verschränkten Armen zusammengesackt auf dem Sofa. Sein ausgebleichtes weißes T-Shirt mit dem Aufdruck GIFFORD ’ S FAMOUS ICE CREAM schlabberte an ihm herunter. Er erinnerte mich an einen jugendlichen Anhalter, den ich mal in El Paso getroffen hatte; wir waren die beiden einzigen Gäste an der Theke eines Diners, kurz vor Tagesanbruch. Wir kamen ins Gespräch, tauschten Geschichten aus, er verabschiedete sich und fand einen BP -Tankwagenfahrer, der ihn mitnahm. Als ich bezahlen wollte, merkte ich, dass er meine Brieftasche geklaut

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