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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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grünschwarze Insel zu, die sich am Horizont erhob. Vor einem dschungelartigen Wald war ein schmaler Strand zu erkennen. Dahinter ragten gewaltige Felsenklippen wie muskelbepackte Schultern aus dem Wasser empor. Der Mann grinste, als würde er einen alten Freund wiedererkennen. Als wir gut zwanzig Meter vom Ufer entfernt waren, schaltete er plötzlich den Motor ab und sah mich erwartungsvoll an, während das Boot hin und her schaukelte. Als er, noch immer lächelnd, mit seinem ölig schwarzen Zeigefinger auf das Wasser deutete, begriff ich, dass ich hineinspringen sollte.
    Ich schüttelte den Kopf.
»Was?«
    Er zeigte nur mit noch mehr Nachdruck auf das Wasser, und als ich gerade abwinkte und ihm zu erklären versuchte, er könne es vergessen, wurde das Boot von einer großen Welle erfasst. Bevor ich mich festhalten konnte, kippte ich nach vorne und stürzte aus dem Boot.
    Ich tauchte kopfüber ins eiskalte Wasser ein. Als ich wieder auftauchte, den Mund voll Meerwasser, spürte ich den Boden unter den Füßen und merkte, dass es hier nicht besonders tief war. Ich schleppte mich zum Ufer und kletterte an Land, gebückt und hustend. Doch dann drehte ich mich um, weil mir klarwurde, dass ich den Mann weder bezahlt noch mit ihm verabredet hatte, wie ich wieder
zurück
kommen würde.
    Doch er hatte den Motor bereits wieder angeworfen und drehte mit seinem Boot um.
    »Hey!«, rief ich ihm hinterher, aber der Wind verschluckte meine Worte. »Warten Sie! Kommen Sie zurück!«
    Er reagierte nicht oder hatte mich nicht gehört. Mit hochgezogenen Schultern, um sich gegen den Wind zu schützen, raste er mit jaulendem Motor über das Wasser. Minuten später war er nur noch ein winziger weißer Punkt.
    Ich sah mich um. Es war gerade noch hell genug, um etwas erkennen zu können. Dort, wo der Strand schmaler wurde, lag, als hätten ihn die Klippen brutal zur Seite gedrängt, ein gewaltiger Felsen. Mit einem Loch.
    Die Falle der Meerjungfrauen.
    Ich ging wie benommen darauf zu und bemerkte dann, dass ein riesiger Schwarm Möwen, deren Schreie vom Ozean übertönt wurden, nicht nur über dem Felsen, sondern über dem Großteil des Strandes kreiste. Sie fraßen etwas, das auf den Felsen verteilt lag. Es begann stärker zu regnen, deshalb lief ich los und suchte unter den Bäumen Schutz, die den Strand säumten.
    Dann fiel mir auf, dass nur ein paar Meter vor mir ein Holzbrett im Sand lag.
    Eine ganze Reihe von Brettern war über einen schlammigen Pfad gelegt worden, der direkt in den Wald hineinführte. Ich sah auf den Kompass, dessen Nadel entschieden nach Osten zeigte. Und dann trat ich auf das Brett und hörte den Schlamm unter meinem Gewicht quatschen. Ich folgte dem Weg und bemerkte, wie abgestanden die Luft plötzlich war, feucht und schwer, aber ich spürte noch etwas anderes – eine Art Rausch, das Gefühl, auf etwas zuzugleiten, in ein Loch zu rutschen, aus dem ich nicht mehr hinausklettern konnte und es gar nicht erst versuchen sollte. Verdrehte Zweige umschlangen sich und wuchsen so dicht, dass von dem Regen hier unten nur das Geräusch ankam, eine Menschenmenge, die über mir tuschelte. Ich ging weiter auf dem Pfad, dann begann ich zu laufen, schließlich zu rennen. Die unebenen Bretter schlugen mir gegen die Füße, manche brachen entzwei und ließen mich knietief im Schlamm versinken. Ich hielt nicht an, rannte an Farnen und wippenden Blumen vorbei. Rechts und links der Bretter bahnten sich oberschenkeldicke Wurzeln ihren Weg in die Freiheit. Mein einziger Begleiter war ein kleiner Vogel, der mich wie eine letzte Warnung verfolgte. Er flog flatternd und zwitschernd durch die Blätter über mir, bis er plötzlich direkt auf mich zuflog und mich, einen Schmerzenschrei ausstoßend, mit seinen schwarzen Flügeln im Gesicht streifte. Dann verschwand er in der Dunkelheit. Der Weg stieg jetzt an und wurde langsam immer steiler, als wolle er mich abschütteln. Doch ich blieb nicht stehen. Ich kletterte so schnell, dass ich nach einer Weile die Bretter unter den Füßen nicht mehr spürte.
    Direkt vor mir stand ein Haus. Es war von Bäumen umgeben und sah so aus wie einige der Häuser, die ich auf der Hauptinsel gesehen hatte, abgenutzt, mit Schindeln verkleidet, vor einem der Fenster hing ein zerbrochener Fensterladen. Nach Luft ringend schleppte ich mich auf die Veranda, packte den rostigen Türknauf und öffnete die Tür.
    Vor mir lag ein leerer Raum – schlichte Holzmöbel, trübes Licht, an der Decke drehte sich ein

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