Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
Vom Netzwerk:
The Peak.
Wenn ich dort hineingegangen wäre, hätte mich der Tunnel dann hierhergebracht?
    »Quieres Barquilla?«
    Ich drehte mich um. Ein dürrer alter Mann stand unten am Wasser, neben einem Pfosten, an dem drei verwitterte Boote festgemacht waren. Er war außer mir der einzige Mensch hier draußen. Als er auf mich zukam, konnte ich erkennen, dass er freundlich lächelte. Ihm fehlten ein paar Zähne. Seine ölverschmierte Hose hatte er bis zu den Schienbeinen hochgekrempelt, und um seinen braungebrannten Kopf hingen ein paar graue Haarsträhnen, als habe sich ein bisschen Nebel dort verfangen.
    Ich packte den
Vanity Fair
-Artikel aus und zeigte ihm die Polaroids.
    Der Mann nickte, offensichtlich kannte er die Kirche. Er sagte etwas, das ich nicht verstand. Es klang wie
»Buta Chauques. Isla Buta Chauques.«
Als er den Felsen mit dem Loch sah, grinste er mich an.
    »Sí, sí, sí. La trampa de sirena.«
    Er wiederholte diesen Satz, wobei seine trockenen Lippen aufgeregt zuckten. Ich versuchte seine Worte grob – und hoffentlich richtig – zu übersetzen.
Die Falle für Meerjungfrauen?
Oder die Falle
der
Meerjungfrauen? Ich nickte verwirrt, was er als Einverständnis missdeutete. Er lächelte und ging zurück in Richtung Meer. Er band das größte seiner drei Boote los und begann, es zum Wasser hinunterzuziehen.
    »Moment!«, rief ich hinter ihm her.
    Doch er zog ruckweise und mit erstaunlicher Kraft am Bug. Der Propeller drehte sich und grub sich in den Sand ein, als wolle er Widerstand leisten.
    »Hey, vergessen Sie’s!
Mañana
!« Jetzt wurde es tatsächlich dunkel.
    Der Mann gab nicht zu erkennen, mich gehört zu haben. Er stand jetzt knietief im Wasser und riss am Seilzug des Außenbordmotors.
    Ich sah ihm stumm zu. Und dann ertappte ich mich dabei, wie ich mich umdrehte und in die Richtung blickte, aus der ich gekommen war.
    Am Ende der Straße konnte ich ein paar Lichter erkennen. Dort schien es freundlich und belebt zu sein, und plötzlich packte mich eine Sehnsucht, als könnte ich direkt hinter diesen dunklen Häusern die Perry Street und mein altes Leben wiederfinden, alles, was mir bekannt und vertraut war, was ich liebte, wenn ich nur dorthin zurückgehen wollte. Doch so nah mir all das auch vorkam, es schien sich zugleich zu entfernen, gemütlich warme Zimmer, die ich durchquert hatte und zu denen es jetzt keinen Zugang mehr gab.
    Ich ging hinunter zum Boot und kletterte hinein. Im Rumpf standen ein paar Zentimeter Meerwasser, doch den alten Mann kümmerte das nicht. Er nahm seine Position neben dem Außenbordmotor ein, holte eine blaue Mütze aus seiner Hemdtasche und zog sie sich tief ins Gesicht. Dann nickte er mir einmal zu, mit erkennbarem Stolz, und steuerte das Boot aufs Meer hinaus.
    Wir waren gerade zwei Minuten unterwegs, als ich einige dunkelgrüne, offenbar unbewohnte Inseln erblickte, die wie riesige Wale links von uns auftauchten. Ich nahm an, dass wir eine von ihnen ansteuerten, doch der Mann ließ eine Insel nach der anderen links liegen, bis ich nichts mehr vor uns sah, keine einzige Landmasse, nichts – nur das aufgewühlte schwarze Meer und den Himmel, der genauso leer war.
    »Wie lange noch?«,
rief ich, als ich mich zu ihm umgedreht hatte.
    Doch der Mann hob nur seine runzlige Hand und murmelte etwas, das vom Wind übertönt wurde. Der Wind schien sein schmutziges graues T-Shirt elektrisch aufzuladen. Der Körper darunter war so knorrig wie ein toter Baum.
    Vielleicht war er Charon, der Fährmann, der die Seelen der Toten über den Styx in die Unterwelt brachte.
    Ich drehte mich wieder um und starrte nach vorne. Ich war zwischen dem Gefühl, dass gleich etwas vor uns auftauchen würde, und der Angst gefangen, dass dort nichts mehr kam. Wir fuhren weiter, ich konnte nicht sagen, wie lange, weil ich meine Hände nicht von den Seiten des Bootes lösen konnte, um auf die Uhr oder den Kompass zu sehen, so stürmisch waren jetzt die Wellen. Sie brachen sich und schlugen gegen das Boot, so dass ich von der Gischt durchnässt wurde. Langsam akzeptierte ich die Möglichkeit, dass wir immer weiter so fahren würden, bis der Tank leer sein würde, und dann würde der Motor sich wie ein erschöpfter Opernsänger beim Abgang von der Bühne ein letztes Mal räuspern und ich würde mich umdrehen und feststellen, dass selbst der alte Mann verschwunden war.
    Doch als ich nach hinten sah, kauerte er noch immer da. Sein Blick war nach links gerichtet und er steuerte auf eine weitere große,

Weitere Kostenlose Bücher