Die amerikanische Nacht
Überall waren Kinder, sich umarmende Familien und Schilder, auf denen
Informacion
und
Europcar
stand. Mein Armee-Reisesack lag einsam auf dem sich drehenden Gepäckband, als habe er dort schon seit Monaten auf mich gewartet.
Mit dem Taxi fuhr ich zum Busbahnhof und stieg in den nächsten Bus nach Pargua. Er war voll, die Hälfte der Plätze waren von randalierenden Jungs in weißen Kniestrümpfen belegt – irgendein Madrigalchor, zu dem ein schwitzender Chorleiter gehörte. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick den Dienst quittieren. Eine alte Frau setzte sich auf den Platz neben mir und warf mir einen argwöhnischen Blick zu. Doch sobald sie eingeschlafen war, stieß ihr Kopf immer wieder gegen meine Schulter, wie eine Boje in rauer See. Unser Bus, ein altes gelbes Ungetüm mit schmutzigen Regenbogen an den Seiten, schlingerte über die von Schlaglöchern übersäten Straßen, und so verließen wir an bayrisch aussehenden Nurdachhäusern und belebten Cafés vorbei die Stadt.
Die Fähre zur Insel Chiloé fuhr alle zwanzig Minuten. Die Überfahrt kostete einen Dollar. Als wir ablegten und auf das vom Wind aufgewühlte Meer hinausfuhren, war ich auf dem Oberdeck von einer großen und lauten Gruppe von Touristen umringt. Eine Italienerin versuchte, sich ihr vom Wind zerzaustes Haar aus dem Gesicht zu halten, während ihr Freund sie fotografierte. Dann sah er mich und bat mich mit einem Lächeln, ein Foto von ihnen beiden zu machen. Ich tat ihm den Gefallen und fragte mich dabei unweigerlich, ob eines Tages jemand nach mir suchen und ihnen ein Bild von mir zeigen würde, so wie ich den Leuten Ashleys Bild gezeigt hatte.
Kennen Sie den Mann? Hat er mit Ihnen gesprochen? Was hatte er an? Wie hat er sich verhalten?
Als ich schließlich ganz allein an der Reling stand, konnte ich weit vor uns die Insel erkennen. Sie offenbarte sich wie eine Frau, die hinter einem Vorhang hervortrat, ganz bewusst und ohne jede Hast: dunkelgrüne Hügel, am Ufer weiße Nebelschwaden, gedämpftes Licht, das zwischen den Bäumen aufblitzte, Telefonmasten mit verknoteten Kabeln, ein heimeliger Strand. Eine Minute lang flog ein schwarzweißer Vogel neben der Fähre her, eine Art Sturmschwalbe, ganz nah neben mir. Er flog auf und ab und stieß dabei einen ohrenbetäubenden Schrei aus, bevor er abdrehte, auf einem anderen Windstoß davonflog und vom Himmel geschluckt wurde.
Wir legten in Chacao an, einem verschlafenen Dorf mit der vernachlässigten Ausstrahlung eines Ortes, den die Menschen immer nur verließen. Dort stieg ich mit vielen der Fahrgäste, die mit mir auf der Fähre gewesen waren, in einen Bus nach Castro, der größten Stadt auf der Insel, wo ich in mein Hotel eincheckte, das
Unicornio Azul
. Es war nicht zu verfehlen: ein knallrosa Gebäude in einer nassen, grauen Straße. Ich hatte gelesen, dass es lebendig und bei Ortsansässigen und Touristen beliebt sei, die ohne viel Geld reisten, es war für gutes Essen bekannt und dafür, dass dort Englisch gesprochen wurde. Mein Zimmer hatte ausgeblichene blaue Tapeten und ein Bett, das nur unwesentlich größer war als das riesige Telefonbuch von Santiago, das auf dem Nachttisch lag. Ich duschte neben der Toilette (das Badezimmer war nicht größer als eine Telefonzelle) und ging anschließend frisch rasiert nach unten, um den Speiseraum zu suchen. Ich bestellte einen
Pisco Sour
, von dem die Bedienung behauptete, man würde ihn hier trinken. Als sie neben mir stehen blieb und fragte, ob ich Australier sei, holte ich den
Vanity Fair
-Artikel hervor und erkundigte mich, ob sie möglicherweise einen der Orte auf den Bildern erkannte.
Die Frage sorgte für großes Interesse.
Keine Minute später standen zwei andere Gäste und der niederländische Barkeeper um meinen Tisch herum und unterhielten sich auf Spanisch über die Polaroid-Bilder – und vermutlich über mich. Auch wenn keiner von ihnen die winzige Kirche erkannte, behauptete einer der Einheimischen – ein schlechtgelaunter kleiner Mann, der auf Drängen der Bedienung hin umständlich zu uns herübergewatschelt kam, woraus ich schloss, dass er im Wasser besser zurechtkam –, er habe den schwarzen Felsen mit dem Loch irgendwo an der Südküste von Quicaví gesehen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. (Der Mann sah aus wie Ende siebzig.)
»Quicaví? Wie komme ich dahin?«, fragte ich.
Doch der Mann streckte mir nur das Kinn entgegen und verzog das Gesicht, als hätte ich ihn beleidigt. Dann trottete er zurück
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