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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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zu seinem Tisch.
    Die Bedienung beugte sich entschuldigend zu mir herunter. »Wir
Chilote
, die Bewohner der Insel, sind sehr abergläubisch, was Quicaví angeht. Es liegt nördlich von hier. Eine Stunde Fahrtzeit entfernt.«
    »Und wieso sind Sie abergläubisch, was Quicaví angeht?«
    »Dort taucht der Mann auf.«
    »Welcher Mann?«
    Sie riss die Augen auf, als wisse sie nicht, wie sie es sagen sollte, doch dann ging sie hastig davon. »Fahren Sie bloß nicht nachts hin«, gab sie mir noch über die Schulter mit.
    Der niederländische Barkeeper schlug mir vor, von seinem Freund nebenan ein Auto zu mieten und noch vor der Dämmerung aufzubrechen –
vor der Dämmerung
schien der entscheidende Hinweis zu sein. Und so saß ich keine Stunde später hinter dem Steuer eines allradgetriebenen grünen Suzuki Samurai, der noch aus den Achtzigern stammte, und fuhr eine kurvenreiche Straße ohne Randstreifen, auf die kaum zwei Autos nebeneinander passten. Ich hatte meinen Pass dabei, mein gesamtes Geld – Dollar und chilenische Pesos –, mein Handy, ein Messer und Popcorns Kompass.
    Während ich fuhr und anhand der Karte und des Kompasses überprüfte, dass ich in nordöstliche Richtung unterwegs war, schien die Insel um mich herum immer weiter aufzulockern. Sanfte Hügel, Pferde, die einsam über Felder galoppierten – ich kam an einer unbewachten Ziegenherde vorbei und an zwei Jungs, die ein Schaf mitführten. Ich hatte immerzu mein leeres Zimmer im
Unicornio Azul
vor Augen, als sei es das Foto eines frischen Tatortes, das sich mir in den Kopf gebrannt hatte: mein Reisesack geöffnet auf dem Bett, die Kleidung eilig hineingeworfen, in der Innentasche der Reiseplan von Expedia, eine rote Zahnbürste am Waschbecken, eine Tube Colgate Total mit dem Abdruck meiner Hand, und schließlich der dreckige Spiegel, der als Letzter mein Gesicht gesehen hatte. Plötzlich fragte ich mich, ob ich eine Nachricht hätte hinterlassen sollen, irgendetwas für Sam, ein kleiner Hinweis –
nur für den Fall
. Ich hatte Septimus bei ihr gelassen und Cynthia versichert, dass ich nur ein paar Wochen weg sei. Sam wusste also, dass ich zurückkäme.
    Und das hatte ich auch fest vor.
    Der Suzuki begann sich bei einigen der Anstiege zu beschweren, und als es einen besonders steilen Hügel hinaufging – der Asphalt war hier schon vor langer Zeit weggespült worden, so dass die Straße nur aus Dreck und Steinen bestand –, schaltete ich den Allradantrieb zu und gab Vollgas. Das gab dem Motor den Rest. Ich schob den Wagen zum Straßenrand und ging zu Fuß weiter.
    Wie durch schwarze Magie
kam ein junger Mann in einem Lieferwagen vorbei, hielt und bot mir an, mich mitzunehmen. Er sprach kein Englisch, im Radio lief Rod Stewart. Als wir den Ortsrand von Quicaví erreichten, eine schmale abschüssige Straße, die von vereinzelten dunklen Häusern gesäumt wurde – die sich alle den Hang hinabneigten, als versuchten sie verzweifelt, zum Ozean zu gelangen, der am Ende der Straße zu sehen war –, ließ der Mann mich aussteigen und fuhr davon.
    Es wurde langsam dunkel, es regnete leicht. Ich bog rechts auf eine andere Straße ab, die mich ins Zentrum von Quicaví führte. Der Ort wirkte nicht sonderlich finster – es gab Cafés, die für Pepsi und kostenloses Internet warben; vor einem Lebensmittelgeschäft graste ein großes Schwein. Und doch waren die Fenster sämtlicher Geschäfte bereits um zehn nach sechs dunkel, an den Türen hingen Schilder mit der Aufschrift
Cerrado
. Nur ein einziges Restaurant, das
Café Romeo
, schien geöffnet zu haben. Von außen konnte ich einige Gäste über ihre Tische gebeugt erkennen. Als ich am Strand ankam, sah ich an dessen Ende eine Hütte, die nach einer Art
cantina
aussah. Das spitze Dach hing voller Lampen.
    Ich lief darauf zu. Der Sand war steinig und schwarz, das Wasser träge. Ich bemerkte überrascht, dass ich allein hier draußen war. Ich ging im Kopf noch einmal die letzten vierzig Stunden durch und stellte fest, dass sich seit meinem Abflug zwei Tage zuvor um fünf Uhr morgens vom JFK -Flughafen bis jetzt die Anzahl der Menschen um mich herum immer weiter verringert hatte – als hätte ich eine rauschende Party besucht und müsste jetzt feststellen, dass ich der letzte verbliebene Gast war.
    Als ich die Hütte erreichte und mir das verwitterte Schild über der Tür ansah, blieb ich wie benommen stehen.
    La Pincoya Negra.
Die schwarze Meerjungfrau. Genau das stand über einem der Tunnel unter

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