Die amerikanische Nacht
hatte sich noch weiter zurückfallen lassen.
»Hundertundneunzehn Erwachsene in den psychiatrischen und den Drogenprogrammen. Tagespatienten nicht eingerechnet.«
»Und die Psychologen arbeiten eng mit jedem Einzelnen zusammen?«
»Aber ja.« Sie hielt an, um sich zu bücken und Sweetie ein braunes Blatt aus dem Fell zu zupfen. »Bei der Aufnahme wird jedem Bewohner sein persönliches Gesundheitsteam zugewiesen. Dazu gehören ein Mediziner, ein Pharmakologe und ein Psychologe.«
»Und wie oft treffen sie sich?«
»Kommt darauf an. Oft täglich. Manchmal zweimal am Tag.«
»Und wo?«
»Im Straffen Haus.« Sie zeigte auf ein rotes Backsteingebäude zu unserer Linken, das halb von Kiefern verdeckt stand. »Da wollen wir gleich noch hin. Erst sehen wir uns das Buford-Haus an.«
Wir verließen den Fußweg und steuerten auf ein graues Steingebäude zu. Sweetie trottete direkt neben meinen Füßen her.
»Hier nehmen die Bewohner die Mahlzeiten zu sich und treffen sich zu Freizeitaktivitäten.« Poole ging die Treppe hinauf und öffnete vor mir die Holztür. »Dreimal in der Woche halten Professoren der State University Purchase in der Aula Vorträge zu allen möglichen Themen, von Erderwärmung über bedrohte Tierarten bis zum Ersten Weltkrieg. Es gehört zu unserer Vorstellung des Heilens, unseren Patienten eine globale Perspektive und einen Sinn für Geschichte zu vermitteln.«
Ich nickte lächelnd und versuchte über die Schulter zu sehen, wo zur Hölle Nora steckte. Sie folgte uns nicht mehr, sondern stand mitten auf der Rasenfläche. Sie beschattete ihre Augen mit der Hand und musterte etwas hinter ihr.
»Ich kann die Schwierigkeiten nachvollziehen, die sie mit ihr haben«, sagte Poole, die meinem Blick gefolgt war. »Mädchen in ihrem Alter machen manchmal eine schwierige Zeit durch. Wie steht denn
Mrs
Dean dazu, wenn ich fragen darf?«
»Sie spielt keine Rolle mehr.«
Poole nickte. Nora sah aus, als würde sie einen Fluchtversuch in Erwägung ziehen. Doch dann schlurfte sie mit hängenden Schultern auf uns zu, hielt kurz an, um Poole übertrieben finster anzublitzen und tänzelte die Treppe hinauf. Poole führte uns durch das Foyer, in dem es beißend nach Desinfektionsmittel roch, und in den Speisesaal, einen großen, sonnigen Raum mit runden Holztischen und Bogenfenstern. Eine Handvoll Mitarbeiterinnen war damit beschäftigt, die Tische zu decken.
»Hier nehmen die Bewohner alle Mahlzeiten zu sich«, sagte Poole. »Selbstverständlich ist uns die körperliche Gesundheit genauso wichtig wie die psychische. Deshalb bieten wir eine fettreduzierte Diät an, außerdem eine vegetarische, eine vegane und eine koschere. Unser Küchenchef hat früher in einem Sternerestaurant in Sacramento gearbeitet.«
»Wann kann ich die Menschen
kennenlernen
, die hier
leben
, damit ich weiß, dass nicht alle
psychotisch
sind?«, fragte Nora.
Poole blinzelte vor Schreck und sah mich an – ich starrte sie nur verlegen an. Dann fing sie sich wieder und lächelte.
»
Heute
wirst du niemanden kennenlernen«, sagte sie diplomatisch und geleitete uns mit ausgestrecktem Arm den Flur entlang. Sweetie schwebte neben ihr her, ihre Pfoten klackerten auf dem Fußboden. »Aber wenn du kommst, wirst du feststellen, dass die Menschen hier so unterschiedlich sind wie überall sonst.«
Poole hielt abrupt neben einem dunklen Alkoven an, wartete einen Augenblick und schaltete ein Deckenlicht an. Die Wände hingen voller Anmeldelisten und Fotos von Aktivitäten in Briarwood.
»Wie man sieht«, sagte Poole und zeigte auf die Pinnwände, »fühlen sich die Menschen hier sehr wohl. Wir sorgen dafür, dass alle körperlich und geistig beschäftigt sind.«
Nora trat mit finsterem Blick in den Alkoven. »Von wann sind die Fotos?«, fragte sie.
»Aus den letzten Monaten«, sagte Poole.
Nora sah sie skeptisch an und untersuchte dann die Bilder, die Arme über dem Bauch verschränkt. Ich nahm an, jetzt sei sie wirklich durchgedreht und versuchte Angie aus »Durchgeknallt« zu imitieren, als ich begriff, was sie da tat.
Sie suchte nach Ashley.
Das war gar keine schlechte Idee. Ich ging an Poole vorbei, um mich umzusehen. Die Fotos zeigten Patienten beim Staffellauf und bei Wanderungen. Einige sahen tatsächlich glücklich aus, doch die meisten wirkten eher ausgezehrt und erschöpft.
Ashley müsste dort herausstechen.
Das dunkelhaarige Mädchen, das ein bisschen abseits steht und herausfordernd in die Kamera blickt. Ich überflog Bilder eines
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