Die amerikanische Nacht
Konzerts, doch am Klavier saß ein Mann mit Dreadlocks. Es gab eine ganze Reihe von Fotos eines Grillfests auf der großen Wiese, Patienten um Picknicktische, die Hamburger aßen – von Ashley nirgendwo eine Spur.
Ich sah zum Eingang zurück und stellte fest, dass Poole uns leicht beunruhigt beobachtete. Wir mussten uns alles ein bisschen
zu genau
angesehen haben.
»Alle sehen so glücklich aus«, sagte ich.
Sie starrte mich kühl an. »Wollen wir weitergehen?«
Ich trat aus dem Alkoven. Die kleine Häkeldecke von einem Hund blickte Pirouetten drehend zu mir auf und hechelte, als hätte ich Dörrfleisch in der Tasche. Nora blätterte die Seiten einer Anmeldeliste für den
Briarwood Lesekreis
durch. Sie las merklich jeden einzelnen Namen.
»
Lisa
«, sagte ich. »Komm.«
Poole führte uns wieder nach draußen, über den Rasen und zum Straffen Haus. Wir gingen direkt in den ersten Stock – hier fanden Musik, Malen und Yoga statt. An Pooles knappen Beschreibungen und ihrem verschärften Ton war zu erkennen, dass sie sich für mich und meine motzige Tochter überhaupt nicht interessierte. Ich versuchte, ihr in Bezug auf die Einrichtung zu schmeicheln, aber sie lächelte nur steif.
Wir kamen an einem Raum der Besinnung vorbei – Kerzen, Fotos von Auen und Himmel – und aus dem Lautsprecher der Sprechanlage ertönte ein Läuten. Der Ton war schrill und hallte in den Ohren nach, das melodische Äquivalent eines gestoßenen Zehs.
»Ich muss aufs Klo«, verkündete Nora gereizt.
»Natürlich«, sagte Poole. Sie hielt neben einem Trinkbrunnen und zeigte auf eine Tür mit der Aufschrift DAMEN in der Mitte des Korridors. »Wir warten hier.«
Nora verdrehte die Augen und ging los. Die Wände des Korridors waren hell, halb weiß gestrichen und halb im Rosa einer Kätzchennase. Trotzdem vermittelte der Ort ein klinisches und klaustrophobisches Gefühl, wie ein Eisenbahnabteil.
Der Desorientiertenexpress in Richtung Irrenhausen. Bitte einsteigen.
Jetzt strömten Patienten aus den Unterrichtsräumen. Sie trugen Jeans und weite Baumwollhemden –
keine Gürtel oder Schnürsenkel
, fiel mir auf – und deckten ein überraschend breites Altersspektrum ab. Ein Typ mit stachligem grauen Haar, der aus einem Zeichenraum herausstolperte, sah wie ungefähr achtzig aus. Die meisten vermieden Blickkontakt, als sie an mir vorbeigingen. Außerdem liefen da einige schlaue Köpfe und Psychiater herum, die sich beratschlagten, nickten und ein kluges Gesicht machten. Sie waren leicht zu erkennen, weil sie alle in Fleecewesten von L. L. Bean, lässige Jacken und Wollpullover in Erdtönen gekleidet waren –
sollten die Patienten das hier für einen Wintersportort halten
?
Poole fummelte an einer Spange in Sweeties Fell herum.
»Ich habe viel Gutes über Dr. Annika Angley gehört«, sagte ich. Sie richtete sich ungelenk auf. Den Hund hatte sie auf dem Arm. Annika Angley war die Psychologin, die Ashleys
Neupatientengutachten
ausgefüllt hatte, das in den Akten der NYPD enthalten war.
»Ein Freund hat sie empfohlen«, fuhr ich fort. »Sie scheint sehr gut mit jungen Frauen umgehen zu können, die depressive Störungen haben. Besteht die Möglichkeit, mit ihr zu sprechen?«
»Ihr Büro ist im zweiten Stock. Dieser Bereich ist für Besucher nicht zugänglich. Zu diesem Zeitpunkt ist es verfrüht, über Dr. Angley oder irgendeinen Arzt zu sprechen. Wenn Lisa zu uns kommt, wird ihr ein Team von Gesundheitsexperten zugewiesen, das ihren Bedürfnissen entspricht. Apropos. Ich werde mal nach ihr sehen.«
Sie setzte Sweetie ab, lächelte mich an – was so viel hieß wie »Rühren Sie sich nicht vom Fleck« –, und marschierte den Flur hinunter. Ihre orthopädischen Schuhe quietschten auf dem Linoleum.
Eine Minute später tauchte sie mit puterrotem Gesicht wieder auf.
»Sie ist nicht da drin«, verkündete sie.
Ich sah sie ausdruckslos an.
»Lisa ist
weg
. Haben Sie sie gesehen?«
»Nein.«
Poole drehte auf dem Absatz um und stapfte den Gang hinunter.
»Sie muss den anderen Ausgang benutzt haben.«
Sweetie und ich – beide verblüfft von den neuesten Entwicklungen – liefen hinter ihr her, doch als ich an der Damentoilette vorbeikam, konnte ich mir nicht verkneifen, die Tür zu öffnen und hineinzurufen: »
Lisa?
Schatz?«
Poole warf mir über die Schulter einen Blick zu. »Da ist sie nicht.
Wirklich.
«
Sie drängelte sich an Patienten vorbei, stieß die Tür am Ende des Gangs auf und stürmte ins Treppenhaus. Ich
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