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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Nora zu mir herüber und hupte einige Male. Sekunden später kollabierte Hopper in einer Wolke von kalter Luft, Zigarettenrauch und Alkohol auf dem Rücksitz.
    »Was geht,
Cholos

    Der Junge war schon wieder besoffen.
    Ich erwischte gerade noch die Gelbphase und jagte über die Seventh Avenue. Hopper murmelte irgendetwas Unverständliches. Eine halbe Stunde später bat er mich, mitten auf dem New Jersey Turnpike rechts ran zu fahren, und übergab sich.
    Es sah nicht so aus, als sei er in der Nacht zu Hause gewesen; er trug immer noch das ausgewaschene weiße GIFFORD’S-FAMOUS-ICE-CREAM -T-Shirt von gestern. PROBIEREN SIE UNSERE 13  HONIGKUCHEN-SORTEN ! stand darauf in verblasster Schrift. Als er fertig war, schien er auf der Leitplanke sitzen bleiben und zusehen zu wollen, wie die Autos wie Kanonenkugeln nur wenige Zentimeter von meinem Auto vorbeischossen. Nora stieg aus, um ihm zu helfen und ihn zum Auto zurückzubringen. Sie tat das mit bemerkenswerter Fürsorglichkeit. Ich hatte das Gefühl, dass sie so etwas schon sehr oft gemacht hatte.
Für wen? Die tote Mutter? Den Verbrecher-Vater, den womöglich Old Sparky erwartete? Großmutter Iii-Lai?
    Warum zur Hölle interessierte sie sich für Ashley Cordova – was kümmerte sie das alles? Und Hopper – war der Stoffaffe, den man ihm anonym geschickt hatte, wirklich der Grund, warum er mich an diesem Donnerstagmorgen begleiten wollte, statt mit Chloe oder Reinking oder einem anderen nach Zigaretten und Indie-Bands stinkenden Downtown-Mädchen im Bett zu bleiben?
    Diese beiden wussten verdammt viel mehr, als sie zugaben. Aber wenn sie etwas zu verbergen hatten, würde ich schon bald herausfinden, was es war.
Geheimnisse
 – selbst bei abgebrühten Verbrechern waren sie bloß Luftblasen unter dem Geröll am Meeresgrund. Vielleicht brauchte es ein Erdbeben, oder du musstest hinuntertauchen und den Schlamm durchwühlen, doch sie neigten von Natur aus dazu, direkt zur Oberfläche aufzusteigen –
und herauszukommen
.
    Nora verstaute Hopper auf der Rückbank. Er murmelte irgendetwas, als sie ihm die Sonnenbrille abnahm. Dann streckte er sich mit einem besoffenen Seufzen quer auf dem Sitz aus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und pennte ein. Nora suchte im Radio weiter nach etwas, das ihr gefiel. Bei einem Folksong blieb sie hängen – »False Knight on the Road«, stand auf der Anzeige. Sie lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster auf die struppigen Felder.
    Der Morgen schien den Himmel müde mit einem Schwamm abzuwaschen, er tauchte die Straßenschilder und Frontscheiben in ein trübes Badewasserlicht, während der Rhythmus des Highways unter den Reifen pochte.
    Ich hatte auch keine Lust zu reden. Ich war zu überrascht, wo ich gelandet war: Unterwegs mit zwei völlig Fremden, hinter uns lag eine ganze Reihe von Geschichten, und nur der Teufel wusste, was
vor
uns lag, doch für den Augenblick waren unsere Leben drei zarte Linien, die nebeneinanderherliefen.
    Wir fuhren nach Briarwood.

15
    »Wir sehen unsere Gäste nicht als
Patienten
«, ließ mich Elizabeth Poole wissen, während wir den Fußweg entlangspazierten. »Sie bleiben ihr Leben lang Teil der Briarwood Familie. Erzählen Sie doch noch mehr von Ihrer Tochter Lisa.« Sie senkte ihre Stimme und drehte sich kurz zu Nora um – im Augenblick als Lisa bekannt –, die sich zwanzig Schritte hatte zurückfallen lassen. »In welche Klasse geht sie?«
    »Sie
war
in ihrem ersten Jahr am College«, sagte ich. »Aber sie hat hingeschmissen.«
    Sie wartete auf weitere Einzelheiten, doch ich lächelte nur und versuchte, mir mein Unbehagen ansehen zu lassen, was mir
ausgesprochen leicht
fiel.
    Elizabeth Poole war eine kleine, dicke Frau Mitte fünfzig, mit einem so verbitterten Gesichtsausdruck, dass ich erst dachte, sie lutschte an einem Bonbon herum, bis mir nach ein paar Minuten klarwurde, dass der Ausdruck keinerlei Anzeichen machte, zu verschwinden. Sie trug eine hochtaillierte Karottenjeans und das dünne braune Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.
    Nora und ich hatten Hopper bewusstlos auf dem Rücksitz liegen gelassen und Pooles Büro im Erdgeschoss des Dycon-Hauses gefunden, einem Backsteingebäude, in dem die Verwaltung von Briarwood untergebracht war. Das Gebäude stand weniger auf dem makellosen Hügel, als dass es ihn festnagelte, mit den langen, kastenförmigen Nebengebäuden und den rankenartigen grauen Fußwegen. Mir reichte ein einziger Blick auf Poole – und dann, als sie hinter

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