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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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zugelassen, dass wir in dieser moralinsauren, engstirnigen Kleinstadt aufwuchsen, wo alle immer nur darüber getuschelt hätten, dass ich das uneheliche Kind eines hitzköpfigen Webereiarbeiters war, der einen umgebracht hatte und dann selbst umgebracht worden war. »Ganz zu schweigen davon, dass die ganze Stadt meine Wenigkeit bloß noch als die Schlampe gesehen hat, die das alles heraufbeschworen hatte.«
    »Aber Mom«, sagte ich, »er hat deine Ehre verteidigt.«
    »Vielleicht hat er das geglaubt, aber er hat alles nur noch schlimmer gemacht. Als die ganze Geschichte vorüber war, hatte Charlotte Holladay keinen Funken Ehre mehr, die er hätte verteidigen können.« Mom zog gierig an ihrer Zigarette. »Charlotte das Flittchen.«
    Aber egal, sie wollte nicht über die Vergangenheit reden. Sie hasste die Vergangenheit. Die Vergangenheit spielte keine Rolle mehr, genau wie es keine Rolle spielte, wo man herkam oder was man gewesen war. Wichtig war nur die Zukunft: was man vorhatte und was man werden wollte. »Ich weiß, wo unsere Zukunft liegt«, sagte sie. »In New York!«
    Passiert war nämlich Folgendes. Sie war bei Freunden unten in San Diego gewesen, weil sie ein bisschen psychische Unterstützung und Wärme brauchte. Danach war sie weitergefahren und hatte in Baja California eine Weile allein am Strand verbracht, wo sie nach Zeichen suchte, welche Richtung sie als Nächstes einschlagen sollte. Sie hatte keine Zeichen entdecken können, aber dann war sie nach Lost Lake zurückgekehrt und hatte Liz’ Nachricht gefunden, dass wir losgezogen waren, um den verrückten Hutmacher und die Haselmaus zu besuchen. Und da begriff sie: Das war das Zeichen. Sie musste Kalifornien den Rücken kehren und ihren Töchtern an die Ostküste folgen. Sie hatte den Anhänger gemietet und das meiste Zeug aus unserem Bungalow reingepackt.
    »Verstehst du, Liz?«, fragte Mom, die jetzt ganz aus dem Häuschen zu sein schien. »Als ich deine Nachricht gelesen hab, dass ihr hinter den Spiegeln auf mich wartet, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das ist New York! Für eine Künstlerin sind New York und L.A. die beiden Seiten des Spiegels.«
    Liz und ich schauten uns an. Wir saßen beide auf dem Beifahrersitz, weil Mom die Rückbank mit Gitarren und Kartons voller Notenblätter zugestellt hatte.
    »Ist das realistisch?«, fragte Liz.
    »Der Realismus kann mich mal«, sagte Mom. »War Gauguin etwa realistisch, als er in die Südsee aufbrach? War Marco Polo realistisch, als er Kurs auf China nahm? War der magere Junge mit der Reibeisenstimme realistisch, als er sein Studium abbrach, Minneapolis verließ und sich in Greenwich Village niederließ, nachdem er seinen Namen in Bob Dylan geändert hat? Keiner, der den Mut hat, Großes zu tun und nach den Sternen zu greifen, fragt sich, ob er realistisch ist.«
    In New York sei die eigentliche Szene, sagte Mom, mehr noch als in L.A., wo es bloß aalglatte Produzenten gab, die einem leere Versprechungen machten, und verzweifelte Starlets, die ihnen unbedingt glauben wollten. Mom fing an, uns von Greenwich Village vorzuschwärmen, dem Washington Square und dem Chelsea Hotel, Blues-Bars und Folk-Clubs, weißgeschminkten Pantomimen und Geigenspielern, die in mit Graffiti bemalten U-Bahn-Stationen spielten. Während sie sich immer mehr in Begeisterung redete, wurde mir auf einmal klar, dass sie weder die Mark-Parker-Geschichte ansprechen würde noch die Tatsache, dass sie uns verlassen hatte – und wir sollten das ebenfalls nicht tun.
    »Das ist jetzt nicht bloß eine ganz normale Autofahrt«, sagte Mom. »Es ist eine Ferienreise. Wir feiern damit das bevorstehende New-York-Abenteuer des Stammes der drei. Und ich hab eine Überraschung für euch.«
    »Was für eine Überraschung?«, fragte Liz.
    »Das kann ich euch nicht verraten, sonst wär’s ja keine Überraschung mehr«, sagte Mom, und dann kicherte sie. »Aber sie wartet in Richmond.«
     
    Wir kamen am späten Nachmittag in Richmond an. Mom fuhr eine baumbestandene Allee hinunter, vorbei an ein paar Denkmälern von Männern zu Pferd, und parkte den Dart mit dem weiß-orangeroten Anhänger vor einem Gebäude, das aussah wie ein Palast irgendwo am Mittelmeer. Ein Mann in einer purpurroten Jacke mit Rockschößen dran kam näher und musterte den Dart und den Anhänger ziemlich skeptisch.
    Mom sah uns an. »Das ist die Überraschung. Mutter und ich sind früher immer hier abgestiegen, wenn wir zum Einkaufen nach Richmond gefahren

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