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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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Mom führte uns erneut durch die Eingangshalle, in der jetzt reges Treiben herrschte. Schick gekleidete Gäste meldeten sich am Empfang an, uniformierte Hotelpagen stapelten Gepäck, und elegante Kellner im Smoking hasteten mit Champagnerkübeln und Silbertabletts voll Cocktails umher. Liz und ich trugen noch immer die abgeschnittenen Jeans und die T-Shirts, die wir am Morgen in Mayfield angezogen hatten, und ich kam mir echt fehl am Platz vor.
    Wir folgten Mom einen Gang hinunter, an dem etliche Läden lagen, in deren glitzernden Schaufenstern mit Messingrahmen alles von Schmuck und Parfüm bis zu kunstvoll geschnitzten Pfeifen und importierten Zigarren feilgeboten wurde. Mom lotste uns in einen Laden mit Anziehsachen. »Als ich in eurem Alter war, ist meine Mutter mit mir genau in diesen Laden gegangen«, sagte sie.
    Kleiderstangen hingen voll mit Klamotten, auf Tischen standen Schuhe und Handtaschen, und kopflose Kleiderpuppen trugen teuer aussehende rosa und grüne Sommerkleider. Mom fing an, Schuhe hochzuhalten und Kleider vom Ständer zu nehmen und so Sätze zu sagen wie: »Das ist wie für dich gemacht, Bean«, und »Die hier würden dir großartig stehen, Liz« und »Das muss ich einfach haben«.
    Die Verkäuferin, eine etwas ältere Frau mit Halbmondbrille, die ihr an einer Goldkette um den Hals hing, kam auf uns zu. Sie lächelte, schielte aber genau wie der Portier nach unten auf meine dreckigen Schuhe. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.
    »Wir brauchen Garderobe fürs Dinner«, sagte Mom. »Wir sind spontan hier abgestiegen und haben nicht viel zum Anziehen dabei. Uns schwebt etwas Elegantes vor, das aber auch
très chic
sein sollte.«
    Die Verkäuferin nickte. »Ich habe da genau das Richtige für Sie«, sagte sie. Sie fragte nach unseren Konfektionsgrößen und schleppte dann verschiedene Kleider an, die Mom mit Ooohs und Aaahs quittierte. Im Handumdrehen hing ein Stapel von in Frage kommenden Teilen über einem Ständer.
    Liz befingerte eines der Kleider und spähte auf das Preisschild. »Mom, das hier kostet achtzig Dollar«, sagte sie. »Das sprengt doch unser Budget.«
    Mom sah Liz erbost an. »Das lass mal meine Sorge sein«, sagte sie. »Ich bin hier die Mutter.«
    Die Verkäuferin blickte von Mom zu Liz und wieder zurück, als wäre sie unschlüssig, wem sie glauben sollte und welche Richtung das Ganze nahm.
    »Haben Sie keine Sonderangebote?«, fragte ich.
    Die Verkäuferin sah mich leicht gequält an. »So ein Geschäft sind wir nicht«, sagte sie. »Auf der Broad Street gibt es einen preisgünstigen Laden.«
    »Na, na, Mädchen, nun macht euch mal keine Gedanken ums Geld«, sagte Mom. »Wir brauchen fürs Dinner was zum Anziehen.« Sie fixierte die Verkäuferin. »Die beiden waren bei ihrem Geizhals von Onkel in Ferien und haben sich seine knauserige Art abgeguckt.«
    »Wir können uns das nicht leisten, Mom«, sagte Liz. »Das weißt du genau.«
    »Wir müssen doch gar nicht in dem Restaurant essen«, sagte ich. »Wir können uns was aufs Zimmer bestellen. Oder uns irgendwo was holen.«
    Mom sah Liz und mich an. Ihr Lächeln verschwand, und ihre Miene verdüsterte sich. »Wie könnt ihr es wagen?«, sagte sie. »Wie könnt ihr es wagen, meine Autorität anzuzweifeln?«
    Sie habe uns etwas Nettes bieten wollen, fuhr Mom fort, wollte uns aufmuntern, und wir dankten es ihr so? Wie ungerecht wir doch waren! Vielen Dank auch! Vielen herzlichen Dank! Sie war quer durchs ganze Land gefahren, um uns zu holen, und was machten wir? Wir blamierten sie in aller Öffentlichkeit, in einem Geschäft, in dem sie schon als junges Mädchen eingekauft hatte! Sie hatte die Nase voll! Sie hatte die Nase gestrichen voll von uns!
    Mom fegte die Kleider vom Ständer und stürmte aus dem Laden.
    »Meine Güte«, sagte die Verkäuferin.
     
    Wir folgten Mom hinaus auf den belebten Gang, aber sie war verschwunden.
    »Bestimmt ist sie zurück auf ihr Zimmer«, sagte Liz.
    Wir durchquerten die Hotelhalle, fuhren mit dem Aufzug auf unsere Etage und gingen den stillen, mit Teppich ausgelegten Flur entlang. Ein Kellner schob einen Servierwagen mit Tellern und Schüsseln, auf denen Silberdeckel lagen, an uns vorbei. Das Essen roch köstlich, und ich merkte, wie hungrig ich war. Wir hatten seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, und ich fragte mich, was jetzt mit dem Abendessen war. Der Gedanke an Zimmerservice war auf einmal echt verlockend.
    Wir blieben vor Moms Tür stehen, und Liz klopfte an. »Mom?«, rief sie.

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