Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
welche pflücken.«
Ich rannte zur Scheune rüber und holte mir auch einen Sack.
Es war Ende Juni, und in den letzten Tagen war es immer schwüler geworden. Der Boden war feucht vom Regen in der Nacht, und wir überquerten die große Heuwiese. An manchen Stellen, wo das Wasser schlecht abfloss, patschten wir durch Schlamm. Heuschrecken, Schmetterlinge und kleine Vögel schreckten aus dem Gras vor uns auf. Wir gelangten zu einem verrosteten Stacheldrahtzaun, der zwischen Wiese und Wald verlief. Brombeeren liebten die Sonne, sagte Joe, und man fände sie am ehesten am Wegesrand oder da, wo der Wald an Wiesen und Felder grenzte. Wir gingen an dem Zaun entlang und stießen bald auf große dornige Büsche voll mit prallen, dunklen Beeren. Die erste, die ich aß, war sauer, und ich spuckte sie gleich wieder aus. Joe erklärte mir, ich solle nur die Beeren pflücken, die sich wie von selbst lösten, wenn man sie nur anfasste. Wenn man dran ziehen musste, waren sie noch nicht richtig reif.
Wir arbeiteten uns am Zaun entlang den Hang hinauf, pflückten Brombeeren und aßen ebenso viele, wie wir sammelten. Joe erzählte, dass er den Sommer über oft im Wald sei und außer Brombeeren auch Himbeeren, Maulbeeren und Papayas pflückte, die manche auch Südstaatenbananen nannten. Außerdem klaute er Kirschen, Pfirsiche und Äpfel in Obstgärten und schlich sich gelegentlich in die Gärten anderer Leute, um Tomaten, Gurken, Kartoffeln und Bohnen einzuheimsen.
»Aber nur, wenn die mehr als genug haben«, sagte er. »Ich nehm mir nie irgendwas, das anderen fehlen würde. Das wäre nämlich Stehlen.«
»Ich würde sagen, du sorgst dafür, dass nichts Essbares umkommt«, sagte ich. »Wie Vögel oder Waschbären, die das essen, was Menschen wegwerfen.«
»Ganz genau, Cousine. Aber ehrlich gesagt, so richtig toll findet das keiner.«
Es käme immer mal wieder vor, dass er vor Farmern, die ihn in ihren Obstgärten oder auf ihren Feldern entdeckten, Reißaus nehmen musste, erzählte er. Einmal war er gerade in Byler hinter dem schicken Haus des Zahnarztes in einen Apfelbaum geklettert, als sich die Familie zum Mittagessen auf der Veranda niederließ. Er musste eine Stunde lang mucksmäuschenstill in dem Baum hocken bleiben, bis sie wieder gingen, reglos wie ein Eichhörnchen, das Angst vor dem Jäger hat. Einmal, das war das Schlimmste, was ihm je passiert war, griff ihn ein Hofhund an, und Joe verlor ein Stück von seinem Finger, ehe er über den Zaun flanken konnte. Er grinste bei der Erinnerung daran und hielt seine Hand hoch. »Ist zum Glück kein Finger, den ich zum Pflücken brauche.«
Als unsere Säcke voll waren, gingen wir am Zaun entlang zurück nach Mayfield. Der Wald auf der anderen Seite lag still in der Mittagshitze. An der Scheune blieben wir stehen und tranken aus dem Hahn über dem Wassertrog, hielten die Köpfe darunter und klatschten uns das kühle Nass ins Gesicht.
»Vielleicht können wir ja demnächst wieder einmal dafür sorgen, dass nichts Essbares umkommt, Cousine«, sagte Joe und wischte sich das Kinn ab.
»Klar, Cousin«, sagte ich und wischte meins ab.
Er ging die Einfahrt runter, und ich wandte mich dem Haus zu. Als ich auf die Veranda trat, machte Liz die Tür auf.
»Mom hat angerufen«, sagte sie. »Sie ist in zwei Tagen hier.«
11
A m selben Nachmittag saßen Liz und ich draußen am Koi-Teich, redeten darüber, dass Mom bald kommen würde, und ließen uns die Brombeeren schmecken, bis unsere Finger verfärbt waren. Es war auch höchste Zeit gewesen, dass Mom anrief. Fünf Wochen und zwei Tage waren vergangen, seit sie ihren Mark-Parker-Ausraster hatte und verschwunden war. Sosehr ich Byler mochte und so froh ich war, Onkel Tinsley und die Familie von meinem Dad kennengelernt zu haben – sogar den griesgrämigen Onkel Clarence –, ich sehnte mich schrecklich nach meiner Mom. Wir waren nun mal, wie sie immer sagte, der Stamm der drei. Wir brauchten einander und sonst nichts auf der Welt. Ich hatte furchtbar viel mit Mom zu besprechen, hauptsächlich das mit meinem Dad, und Liz und ich wollten wissen, wie es nun weiterging. Würden wir wieder nach Lost Lake fahren? Oder ganz woandershin?
»Vielleicht könnten wir ein Weilchen hierbleiben«, sagte ich zu Liz.
»Vielleicht«, sagte sie. »Es ist ja auch Moms Haus.«
Seit wir angekommen waren, hatten wir Ordnung in Onkel Tinsleys Sachen gebracht, aber in einem Haus wie Mayfield nahm die Arbeit kein Ende. Zwei Tage nach Moms Anruf waren
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