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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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wir gerade dabei, Einmachgläser und Kisten wegzuräumen, als wir den Dart die Einfahrt heraufkommen hörten.
    Liz und ich stürmten über die breite Veranda und die Stufen hinunter nach draußen, wo Mom gerade aus dem Auto stieg, das einen kleinen, weiß-orangeroten Anhänger hinter sich herzog. Sie trug ihre rote Samtjacke, obwohl doch Sommer war, und hatte das Haar auftoupiert, wie wenn sie zu einem Vorsingen fuhr. Wir drei umarmten uns mitten in der Einfahrt, lachten und jauchzten, und Mom sagte wieder und wieder »meine Schätzchen«, »meine Babys« und »meine lieben Mädchen«.
    Onkel Tinsley kam aus dem Haus, lehnte sich gegen eine von den Verandasäulen und beobachtete uns mit verschränkten Armen. »Nett von dir, uns endlich zu beehren, Char«, sagte er.
    »Ich freu mich auch, dich zu sehen, Tin«, sagte Mom.
    Mom und Onkel Tinsley standen da und sahen sich an, also plapperte ich los und erzählte Mom, was für tolle Sachen wir gemacht hatten, dass wir in ihren alten Zimmern im Vogeltrakt schliefen, den Koi-Teich gesäubert hatten, Trecker gefahren waren, Pfirsiche gegessen und Brombeeren gepflückt hatten.
    Onkel Tinsley unterbrach mich. »Wo bist du gewesen, Char?«, fragte er. »Wie konntest du einfach abhauen und die Kinder allein lassen?«
    »Maß dir kein Urteil über mich an«, entgegnete Mom.
    »Bitte streitet euch nicht!«, sagte Liz.
    »Ja, seien wir nett zueinander«, sagte Mom.
    Wir gingen alle ins Haus, und Mom blickte auf das große Durcheinander. »Meine Güte, Tin. Was würde Mutter dazu sagen?«
    »Was würde sie über jemanden sagen, der seine Kinder im Stich lässt? Aber wie du schon meintest, seien wir nett zueinander.«
    Onkel Tinsley ging in die Küche und kochte eine Kanne Tee. Mom spazierte im Wohnzimmer umher, nahm die Kristallvasen und Porzellanfigürchen ihrer Mutter in die Hand, das alte, mit Leder bezogene Fernglas ihres Vaters, die Familienfotos in ihren Silberrahmen. Sie habe so sehr versucht, dieses Haus und diese Vergangenheit aus ihrem Leben zu verbannen, sagte sie, und jetzt sei sie wieder mittendrin. Sie lachte und schüttelte den Kopf.
    Onkel Tinsley kam mit dem Teeservice auf einem Silbertablett herein.
    »Wieder hier zu sein fühlt sich für mich total düster und seltsam an«, sagte Mom. »Ich spüre die alte Kälte. Mutter war immer so unterkühlt und distanziert. Sie hat mich nie richtig geliebt. Es ging ihr immer nur darum, den Schein zu wahren und korrekt zu sein. Und Vater hat mich aus den falschen Gründen geliebt. Das war sehr ungehörig.«
    »Charlotte, du redest Unsinn«, sagte Onkel Tinsley. »In diesem Haus ging es immer warm und herzlich zu. Du warst Daddys kleine Prinzessin – zumindest bis zu deiner Scheidung –, und du fandest es toll. Unter diesem Dach ist nie irgendwas Ungehöriges passiert.«
    »Das mussten wir vorgeben. Wir mussten so tun, als wäre alles wunderbar. Wir waren alle ganz prima Heuchler.«
    »Mach dich nicht lächerlich«, sagte Onkel Tinsley. »Du hattest schon immer einen Hang zu Übertreibungen. Immer musstest du deine kleinen Dramen inszenieren.«
    Mom wandte sich uns zu. »Seht ihr, was ich meine, Mädchen? So läuft das hier, wenn du versuchst, die Wahrheit zu sagen. Du wirst angegriffen.«
    »Trinken wir einfach unseren Tee«, sagte Onkel Tinsley.
    Wir setzten uns hin. Liz füllte die Tassen und reichte sie herum.
    Mom starrte in ihren Tee. »Byler«, sagte sie. »In dieser Stadt leben alle in der Vergangenheit. Die Leute reden immer bloß über das Wetter oder über Football. Als würden sie nicht wissen und sich auch nicht dafür interessieren, was draußen in der Welt passiert. Wissen die überhaupt, dass ihr Präsident ein Kriegsverbrecher ist?«
    »Das Wetter ist nun mal wichtig, wenn du von dem lebst, was du anbaust«, sagte Onkel Tinsley. »Und manche Leute finden, dass Präsident Nixon seine Sache ganz gut macht, wenn er versucht, einen Krieg zu beenden, den er nicht angefangen hat. Der erste Republikaner, den ich je gewählt habe.« Er rührte Zucker in seinen Tee und räusperte sich. »Wie soll’s jetzt mit dir und den Mädchen weitergehen? Was für Pläne hast du?«
    »Ich mag keine Pläne«, sagte Mom. »Ich mag Möglichkeiten. Wir haben mehrere Möglichkeiten, und die werden wir alle in Erwägung ziehen.«
    »Was sind das für Möglichkeiten?«, fragte Liz.
    »Ihr könntet hierbleiben«, sagte Onkel Tinsley. Er trank einen Schluck Tee. »Eine Zeitlang.«
    »Das kommt nicht in Frage«, sagte Mom.
    Onkel Tinsley

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