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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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sind.«
    Sie öffnete die Autotür und hielt dem Portier elegant die Hand hin. Er zögerte kurz, dann nahm er ihre Hand und half ihr mit einer leichten Verbeugung aus dem Auto.
    »Willkommen im Hotel Madison«, sagte er.
    »Es ist schön, mal wieder hier zu sein«, sagte Mom.
    Wir kletterten hinter Mom aus dem Auto. Der Portier warf einen Blick auf meine Turnschuhe, an denen der ockerfarbene Matsch von Byler klebte. Mom führte uns über ein paar mit Teppich belegte Stufen in eine riesige Hotelhalle. Reihen von Marmorsäulen, durch deren Stein sich dicke dunkle Adern zogen, säumten den Raum auf beiden Seiten. Die Decke war himmelhoch, mindestens zwei Stockwerke, und hatte ein gigantisches Oberlicht aus Buntglas in der Mitte. Wo man auch hinsah, überall waren Kronleuchter, Statuen, Polstersessel, Perserteppiche, Gemälde und Galerien. So was hatte ich noch nie gesehen.
    »Können wir es uns denn leisten, hier zu übernachten?«, fragte Liz.
    »Wir können es uns nicht leisten, hier nicht zu übernachten«, sagte Mom. »Nach allem, was wir durchmachen mussten, haben wir das verdient, mehr als das, wir brauchen es.«
    Mom hatte fast ununterbrochen geredet, seit wir in Mayfield losgefahren waren. Nun erging sie sich über die korinthischen Säulen des Hotels und die geschwungene Treppe, die, wie sie sagte, in
Vom Winde verweht
in einer Szene benutzt worden war. Wenn sie und ihre Mutter hier gewohnt hatten, so erzählte sie uns, waren sie immer ihre Garderobe für das nächste Schuljahr einkaufen gegangen, und hinterher hatten sie den Tee und ein paar Sandwiches im Teeraum eingenommen, wo von den Damen erwartet wurde, dass sie weiße Handschuhe trugen. Ihre Augen leuchteten.
    Ich überlegte, Mom darauf aufmerksam zu machen, was sie kurz zuvor über ihre Kindheit gesagt hatte, dass sie nämlich nur lauter böse Erinnerungen daran hatte, dass sie die Leute mit den weißen Handschuhen doch immer verachtet hatte. Ich verkniff es mir. Sie war so begeistert, und außerdem widersprach sich Mom sowieso ständig.
    An der Rezeption verlangte Mom zwei nebeneinanderliegende Zimmer. »Mom!«, zischelte Liz. »Zwei Zimmer?«
    »In so einem Hotel quetscht man sich nicht zu mehreren in ein Zimmer«, sagte Mom. »Das ist keine billige Absteige mit Neonreklame vorne dran. Das ist das Madison!«
    Ein Page mit einem randlosen Hütchen brachte unsere zweifarbigen Koffer auf einem Gepäckwagen nach oben. Mom übergab ihm demonstrativ zehn Dollar Trinkgeld. »Jetzt machen wir uns ein bisschen frisch, und dann gehen wir shoppen«, sagte sie. »Wenn wir im großen Speisesaal essen wollen, brauchen wir anständige Klamotten.«
    Liz schloss die Tür zu unserem Zimmer auf. Es war Luxus pur, mit einem offenen Kamin und burgunderroten Samtvorhängen, die mit kleinen Troddeln an den Seiten zusammengebunden waren. Wir legten uns auf das Himmelbett und sanken richtig in die Matratze ein, so weich war sie.
    »So wie jetzt war Mom noch nie«, sagte ich.
    »Es ist echt schlimm«, sagte Liz.
    »Sie hört gar nicht mehr auf zu reden.«
    »Hab ich gemerkt.«
    »Vielleicht ist es bloß eine Laune und geht wieder vorbei.« Ich schüttelte eins von den übergroßen Kissen auf und lehnte mich dagegen. »Mom und Onkel Tinsley haben ganz verschiedene Erinnerungen an ihre Kindheit in Mayfield.«
    »Als wären sie in zwei verschiedenen Häusern aufgewachsen.«
    »Was Mom da über ihren Dad gesagt hat, er wäre ungehörig gewesen, das ist gruselig. Meinst du, das stimmt?«
    »Ich meine, wenn Mom das glaubt, muss das noch lange nicht stimmen. Vielleicht brauchte sie bloß jemanden, dem sie die Schuld dafür geben konnte, wie alles gekommen ist. Vielleicht ist mal irgendwas vorgefallen, und sie hat es im Nachhinein total aufgebauscht. Aber vielleicht stimmt’s wirklich. Ich glaube, das werden wir nie erfahren.«
     
    Nach einer Weile klopfte Mom an unsere Tür. »Ladys«, rief sie, »Zeit, die Geschäfte unsicher zu machen.«
    Sie trug noch immer die rote Samtjacke, aber sie hatte ihr Haar noch höher toupiert und sich mit glänzendem Lippenstift und einem dicken dunklen Lidstrich zurechtgemacht. Außerdem redete sie noch immer ohne Punkt und Komma. Im Fahrstuhl nach unten erklärte sie, der große Speisesaal des Hotels sei so nobel, dass die Männer Sakko und Krawatte tragen mussten, und wenn sie in Hemdsärmeln erschienen, half der Oberkellner ihnen mit angemessener Kluft aus. Zu diesem Zweck stand in der Garderobe stets eine Auswahl an Sakkos und Krawatten bereit.

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