Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
stellte seine Teetasse ab. »Char, du musst den Mädchen endlich Stabilität bieten.«
»Was verstehst du denn schon von Kindererziehung?«, fragte Mom mit einem dünnen Lächeln.
»Das ist nicht fair«, sagte Onkel Tinsley. »Ich weiß genau, wenn Martha und ich mit Kindern gesegnet worden wären, hätten wir sie niemals einfach so allein gelassen.«
Mom knallte ihre Tasse so fest auf den Tisch, dass ich schon dachte, sie würde zerbrechen, dann stand sie auf und beugte sich über Onkel Tinsley. Immer wenn Mom kritisiert wird, geht sie zum Angriff über, und genau das tat sie jetzt auch. Sie ziehe ihre Töchter ganz allein groß, sagte sie, und alle beide wären verdammt gut geraten. Er hatte ja keine Ahnung, was für Opfer sie hatte bringen müssen. Und überhaupt, sie war eine unabhängige Frau. Sie hatte ihre eigene Musikkarriere. Sie traf ihre eigenen Entscheidungen. Sie würde nicht den Mund halten und sich die Vorwürfe ihres Bruders anhören, eines heruntergekommenen Einsiedlers, der noch immer in dem Provinzkaff und in dem Haus lebte, in dem er geboren war. Er hätte nie den Mumm gehabt, aus Byler abzuhauen, und sie wäre nicht in dieses gottverlassene Nest zurückgekommen, um ihm Rechenschaft abzulegen.
»Packt eure Sachen, Mädchen«, sagte sie. »Wir fahren.«
Liz und ich sahen uns unsicher an und wussten nicht, was wir sagen sollten. Ich wollte Mom erzählen, wie gut Onkel Tinsley zu uns gewesen war, aber ich hatte Angst, dass sie dann dachte, ich würde für ihn Partei ergreifen, und das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.
»Habt ihr nicht gehört?«, fragte Mom.
Wir stiegen die Treppe zum Vogeltrakt hoch.
»Menschenskind, die beiden hassen sich«, sagte ich.
»Sie hätten doch wenigstens versuchen können, höflich zu bleiben«, sagte Liz.
»Und die wollen erwachsen sein«, sagte ich und fügte hinzu: »Eigentlich will ich gar nicht hier weg. Wir haben gerade erst die Wyatts kennengelernt, und ich find sie echt nett.«
»Ich will auch nicht weg. Aber uns fragt ja keiner.«
Onkel Tinsley saß am Schreibtisch und schrieb auf ein Blatt Papier, als wir mit den zweifarbigen Debütantinnenzeit-Koffern die Treppe runterkamen. Er faltete das Blatt zusammen und gab es Liz.
»Die Telefonnummer«, sagte er. »Byler zwei-vier-sechs-acht. Ruft an, wenn ihr mich braucht.« Er küsste uns beide auf die Wange. »Passt auf euch auf.«
»Danke, dass ich Fido neben Tante Martha beerdigen durfte«, sagte ich. »Zuerst hab ich gedacht, du wärst ein bisschen miesepetrig, aber jetzt finde ich dich klasse.«
Und dann gingen wir aus dem Haus.
12
M om trat aufs Gas, als müssten wir nach einem Banküberfall fliehen, sie überholte zig Autos auf der Straße nach Byler, und in der Stadt fuhr sie bei Rot über eine Ampel. Sie umklammerte das Lenkrad, als hinge ihr Leben davon ab, und redete ununterbrochen. Mayfield sei wirklich verkommen, sagte sie. Mutter wäre entsetzt, wenn sie das sehen könnte. Anscheinend sei Tinsley ein totaler Einsiedler geworden, aber er war ja schon immer ein Sonderling. Gott, was hatte das Haus Erinnerungen geweckt – böse Erinnerungen. Genau wie diese total deprimierende Scheißstadt. Nur böse Erinnerungen.
»Ich mag Mayfield«, sagte ich. »Und ich mag auch Byler.«
»Sei froh, dass du nicht hier aufgewachsen bist«, sagte Mom. Sie griff in ihre Handtasche und zog eine Packung Zigaretten heraus.
»Du rauchst?«, fragte Liz.
»Nur weil ich hierher zurückgekommen bin. Das macht mich ein bisschen nervös.«
Mom zündete sich die Zigarette am Anzünder im Armaturenbrett an. Wir bogen auf die Holladay Avenue. Der Nationalfeiertag stand bevor, und Arbeiter waren dabei, an jedem Laternenpfahl Fahnen aufzuhängen.
»Gott segne Amerika«, sagte Mom sarkastisch. »Bei allem, was dieses Land in Vietnam angerichtet hat, begreife ich nicht, wie da einer patriotische Gefühle hegen kann.«
Wir nahmen die Rumpelbrücke über den Fluss. »Ich hab die Wyatts kennengelernt«, sagte ich.
Mom antwortete nicht.
»Tante Al hat mir erzählt, dass mein Dad erschossen worden ist.« Ich biss mir auf die Lippe. »Du hast gesagt, er wäre tödlich verunglückt.«
Mom zog an ihrer Zigarette und pustete Qualm aus. Liz kurbelte ihr Fenster runter.
»Das hab ich dir erzählt, weil es besser für dich war, Bean«, sagte Mom. »Du warst zu jung, um das zu verstehen.«
Aus demselben Grund sei sie aus Byler verschwunden, weil es besser für ihre Töchter war, sagte sie. Nie im Leben hätte sie
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