Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Onkel Tinsley hatte gesagt, er würde uns gern bei sich in Mayfield behalten –, und sobald sie eine preiswerte Wohnung in einem Viertel mit einer guten Schule gefunden hatte, würde sie uns nach New York holen, und der Stamm der drei wäre wieder zusammen.
Mir war das ganz recht. Offen gestanden ging Mom mir allmählich auf die Nerven. Inzwischen hatten wir Anfang August, und immer wenn mir danach war, mit einer Erwachsenen zu reden, besuchte ich Tante Al. Dann saßen wir mit Earl am Küchentisch, sie nippte gelegentlich an einem Glas Eistee, von dem sie immer eine Kanne bereitstehen hatte, und erzählte zum Beispiel, wie sie als Mädchen auf der Farm ihrer Eltern mitgeholfen hatte und wie ihr Dad einmal, als der Mais wegen einer Dürre nicht sprießen wollte, den Kindern befohlen hatte, die Körner auszugraben, um sie im Jahr darauf erneut zu pflanzen. Sie erzählte mir auch Geschichten über meinen Vater, wie er ein ganzes Auto aus Teilen vom Schrottplatz zusammengebaut hatte, wie er Ruth mit dem Kopf nach unten über ein Brückengeländer gehalten hatte, damit sie ihre Höhenangst verlor, und wie er Tante Al mal auf seinem Motorrad mitgenommen hatte und sie aus Versehen den Fuß in die Speichen bekam und ihr Schuh zerfetzt wurde.
Onkel Clarence war ein echter Griesgram, und ich schätze, Tante Al hatte recht damit, dass sein schweres Leben der Grund dafür war. Aber eigentlich, so fand ich, hatte auch Tante Al es richtig schwer: Sie schuftete in der Spätschicht, in einem Job, den Mom wohl als Drecksarbeit bezeichnen würde, und wenn sie nach Hause kam, machte sie Frühstück für ihre Familie, legte sich dann für ein paar Stunden aufs Ohr und stand wieder auf, um das Abendessen zu kochen. Ihr mürrischer Ehemann war arbeitsunfähig, ein Sohn war im Krieg und der jüngste Sohn nicht ganz richtig im Kopf, aber sie beklagte sich nie. Stattdessen redete sie ständig davon, wie gut es Gott mit ihr meinte und wie viel Wunderbares Jesus ihr doch im Leben geschenkt hatte, zum Beispiel, dass Leute wie ich plötzlich und unerwartet vor ihrer Tür standen. Aber ihr größter Segen waren ihre Kinder, und in jeder Unterhaltung kam Tante Al irgendwie auf sie zu sprechen – Truman, der tapfere Soldat; Joe, der Pfiffikus; Ruthie, die den ganzen Sommer über Tante Als Schwester gepflegt hatte und demnächst einen guten Bürojob kriegen würde; und der kleine Engel Earl. Sie liebte sie alle, und die Kinder liebten sie. »Ich schwöre, die halten mich für die beste Mom, die es je gegeben hat«, sagte sie mehr als einmal zu mir.
Wenige Tage nachdem Mom uns gesagt hatte, wir sollten in Byler zur Schule gehen, radelte ich zu den Wyatts. Als ich in die Küche kam, saß Tante Al am Tisch und las einen Brief. Er sei von Ruth, sagte sie. Tante Als Schwester war von ihrer Hirnhautentzündung genesen, und Ruth hoffte, in wenigen Tagen zurück nach Hause kommen zu können; sie freute sich schon, Liz und mich endlich kennenzulernen. Dann öffnete Tante Al einen Schuhkarton auf der Arbeitsplatte und nahm ein Bündel dünner blauer Luftpostbriefe heraus, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde. »Trumans Briefe«, sagte sie. »Er schreibt mir jede Woche, ohne Ausnahme.«
In Trumans letztem Brief hatte er ihr von einer netten jungen Vietnamesin erzählt, in die er sich verguckt hatte. Er hatte vor, ihr einen Heiratsantrag zu machen und sie mitzubringen, wenn er zurück nach Virginia kam, und Tante Al sollte ihm schreiben, was sie davon hielt. »Hätte mich einer vor ein paar Jahren gefragt, hätte ich vielleicht gesagt, Byler wäre noch nicht so weit, um mit so was gut klarzukommen, aber mittlerweile hat sich hier viel geändert, also hab ich ihm geschrieben, er soll zum Herrn beten und Ihn fragen, und wenn der ihm sagt, es ist Sein Wille, dann werde ich das Mädchen mit offenen Armen aufnehmen.«
Tante Al legte das Bündel Luftpostbriefe sorgsam wieder zurück in den Schuhkarton, zusammen mit Ruths Brief.
»Ich hab auch eine Neuigkeit«, sagte ich. »Sieht ganz so aus, als würden Liz und ich im Herbst auf die Highschool in Byler gehen.«
»Schätzchen!« Tante Al riss mich in eine von ihren kräftigen Umarmungen. »Da freu ich mich aber, dass ihr hier bei uns bleibt und nicht fort in die Großstadt müsst.«
»Mom hat gesagt, das Leben in New York ist eine größere Herausforderung, als sie gedacht hat.«
»So kann man es auch ausdrücken.« Tante Al lachte. »Apropos Herausforderung, du kannst dich auch auf was gefasst
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