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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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Zentimeter von uns entfernt saß. »Weiß euer Onkel Tinsley, dass ihr für mich arbeitet?«
    Liz und ich tauschten einen kurzen Blick. »Nicht so richtig«, sagte sie.
    »Darauf hätte ich gewettet.«
    »Wir wollten es ihm sagen«, warf ich ein, »aber …«
    »Er wäre wahrscheinlich nicht gerade erfreut«, sagte Mr Maddox.
    »Wir mögen unseren Onkel Tinsley sehr –«, setzte Liz an.
    »Aber manchmal sieht Onkel Tinsley die Dinge nicht so, wie sie nun mal sind«, fiel Mr Maddox ihr ins Wort. »Manchmal sieht Onkel Tinsley nicht, was getan werden muss.«
    »Genau«, sagte Liz.
    »Deshalb halte ich es für eine gute Idee, ihm nichts zu sagen«, meinte Mr Maddox. Er lächelte dieses Lächeln, das er immer aufsetzte, wenn er eine Situation insgeheim amüsant fand. »Es bleibt also unter uns.«
    »Aber andere Leute wissen Bescheid«, sagte Liz. »Sie stellen mich ja überall als Tinsley Holladays Nichte vor.«
    »Und ich hab’s meiner Tante Al erzählt – Al Wyatt«, sagte ich. »Und Joe Wyatt auch.«
    »Die Wyatts«, sagte Mr Maddox. »Die Frau arbeitet in der Spätschicht. Der Mann ist ein Drückeberger, der behauptet, er wäre lungenkrank. Die Tochter war mal Babysitterin bei uns, aber dann sind auf einmal Sachen im Haus weggekommen, und wir mussten sie rausschmeißen.« Er lehnte sich zurück und schlug klatschend auf die Sessellehnen. »Jedenfalls, bloß weil ein paar Leute von eurem Job bei mir wissen, heißt das noch lange nicht, dass es eurem Onkel zu Ohren kommen muss. Er verlässt in letzter Zeit nicht mehr oft das Haus. Und falls er es erfährt, nun ja, kommt Zeit, kommt Rat. Aber ich denke, jetzt könnt ihr euch ansatzweise vorstellen, was für Probleme ich mit ihm hatte.«
    Mr Maddox erklärte, dass die Firma in Chicago ihn hergeschickt hatte, weil die Weberei Verluste machte. Die neuen Besitzer sagten, es gäbe zwei Möglichkeiten: die Kosten um dreißig Prozent senken und versuchen, Gewinn zu erwirtschaften, oder die Weberei endgültig schließen, die Maschinen – Webstühle und alles – in Einzelteile zerlegen und an eine Fabrik in Asien verkaufen.
    »Die Arbeiter waren wütend auf mich, weil ich ihre Freunde und Bekannten entlassen habe«, sagte Mr Maddox. »Aber eigentlich hätten sie aus Dankbarkeit, dass ich ihre Arbeitsplätze rette, vor mir auf die Knie fallen und mich von oben bis unten abküssen müssen. Die Flachköpfe in Asien sind bereit, für zwanzig Cent die Stunde zu malochen, und die machen uns fertig. Und die ganze Zeit lag mir euer Onkel in den Ohren, meckerte rum und jammerte was von wegen, wir müssten die Baseballmannschaft behalten und die Qualität der Badetücher wäre nicht mehr die, die sie mal war. Dabei geht Qualität den Leuten doch heutzutage am Arsch vorbei. Die wollen bloß irgendwas, um sich den Hintern zu trocknen, und das Einzige, was sie interessiert, ist der Preis.«
    Mr Maddox beugte sich vor, die dicken Arme auf den Knien, und blickte mit seinen eindringlichen blauen Augen zwischen Liz und mir hin und her. »Also«, sagte er, »musste Onkel Tinsley seine Sachen packen.« Er lächelte wieder. »Die Nachricht von seinem Rausschmiss hat ihn ganz schön rotieren lassen«, sagte er. Er hob den Zeigefinger in die Luft und ließ ihn kreisen. »Hui, hui, hui. Er hörte gar nicht mehr auf. Wie eine tuntige kleine Ballerina.«
    Mr Maddox stand auf, streckte die Arme über den Kopf und machte eine affektierte Pirouette. Dann setzte er sich wieder. »Versteht mich nicht falsch, ich finde, euer Onkel ist ein prima Kerl, aber ihr müsst zugeben, manche Dinge schätzt er einfach grottenfalsch ein.« Er sah uns beide an. »Hab ich recht?«
    Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Liz betrachtete ihre Fingernägel. Dagegen gab’s nicht viel zu sagen.

20
    M om rief einmal die Woche an und sprach erst mit Liz, dann mit mir. Das Leben in New York sei aufregend, sagte sie, aber doch auch eine größere Herausforderung, als sie gedacht hatte. Zum einen war es teuer. Die einzige bezahlbare Wohnung, die sie hatte finden können, hatte eine Badewanne in der Küche und lag in einem Problemviertel mit einer lausigen Schule. Viele New Yorker Kinder gingen auf Privatschulen, aber die waren viel zu kostspielig für uns. Liz und ich gehörten natürlich auf eine von diesen speziellen öffentlichen Schulen für begabte Schüler, erklärte sie, aber es wäre zu spät, um uns dieses Jahr noch in so einer unterzubringen, also sollten wir das Schuljahr in Byler anfangen –

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