Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Notenblätter, die aus den Regalen gerissen worden waren. Sie sah aus, als hätte sie geweint.
»Was hast du?«, fragte ich.
»Er ist weg«, sagte Mom.
»Wieso denn das?«
»Wir haben uns gestritten. Ich hab ja gesagt, er ist launisch.« Um Mark nach Lost Lake zu locken, hatte sie ihm gesagt, dass Liz und ich bei Freunden übernachten würden. Aber als er ankam, hatte sie ihm erzählt, es hätte sich anders ergeben und Liz und ich würden nach der Schule nach Hause kommen. Mark war in die Luft gegangen. Er sagte, er fühle sich hintergangen und eingeengt, und weg war er.
»Was für ein Blödmann«, sagte ich.
»Er ist kein Blödmann. Er ist leidenschaftlich. Er hat Charisma. Und er ist verrückt nach mir.«
»Dann kommt er wieder.«
»Ich weiß nicht«, sagte Mom. »Die Sache ist ziemlich ernst. Er hat gesagt, dass er nach Italien fährt, in seine Villa.«
»Mark hat eine Villa in Italien?«
»Die gehört ihm nicht wirklich. Der Besitzer ist ein Freund von ihm, ein Filmproduzent, aber er lässt Mark da wohnen.«
»Wow«, sagte ich. Mom hatte schon immer mal nach Italien gewollt, und jetzt hatte sie einen Typen, der einfach rüberjetten konnte, wenn er Lust dazu hatte. Abgesehen davon, dass er Liz und mich nicht kennenlernen wollte, war Mark Parker offenbar alles, was Mom je bei einem Mann gesucht hatte. »Wenn er uns nur mögen würde«, sagte ich, »aber dann wär es ja zu schön, um wahr zu sein.«
»Was soll das heißen?« Mom zog die Schultern hoch und starrte mich an. »Meinst du, ich denk mir das alles bloß aus?«
»Aber nein, nie im Leben«, sagte ich. »Einen Freund zu erfinden wäre einfach zu behämmert.« Doch in dem Moment, als mir die Worte über die Lippen kamen, schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass Mom sich das tatsächlich alles bloß ausdachte. Plötzlich wurde mir heiß im Gesicht, als würde ich Mom nackt sehen. Wir blickten uns an, und sie merkte, dass ich sie durchschaute: Sie hatte sich alles nur ausgedacht.
»Du kannst mich mal!«, schrie Mom. Sie war aufgesprungen und fing an rumzuzetern, was sie alles für mich und Liz getan hatte, wie sehr sie sich abrackerte, wie viel sie für uns opferte, was für undankbare Parasiten wir zwei waren. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber das machte sie nur noch wütender. Sie hätte nie Kinder bekommen sollen, wetterte sie, und mich schon gar nicht. Ich war ein Fehler. Sie hatte ihr Leben und ihre Karriere für uns weggeworfen, ihr Erbe für uns durchgebracht, und wir waren noch nicht mal dankbar.
»Ich halt das nicht mehr aus!«, schrie sie. »Ich muss hier weg.«
Ich überlegte gerade noch, was ich sagen sollte, um sie zu beschwichtigen, als Mom sich auch schon ihre große Handtasche von der Couch schnappte und türenknallend aus dem Haus stürmte. Ich hörte, wie sie den Dart startete und mit aufheulendem Motor wegfuhr, und dann war es bis auf das leise Klimpern des Windspiels still im Bungalow.
Ich fütterte Fido, die kleine Schildkröte, die Mom mir bei Woolworth zum Trost gekauft hatte, weil ich keinen Hund haben durfte. Dann rollte ich mich in Moms lila Fledermaussessel zusammen, in dem sie so gern saß, wenn sie Songs schrieb, starrte zum Panoramafenster hinaus, streichelte Fidos Köpfchen mit dem Zeigefinger und wartete darauf, dass Liz von der Schule kam.
Um ehrlich zu sein, Mom konnte schnell aus der Haut fahren und neigte dazu, auszurasten und hysterisch zu werden, wenn ihr die Dinge über den Kopf wuchsen. Die Anfälle waren meistens schnell wieder vorbei, und dann machten wir alle weiter, als wäre nichts gewesen. Aber diesmal war es anders. Mom hatte Dinge gesagt, die sie noch nie gesagt hatte, zum Beispiel, dass ich ein Fehler war. Und diese ganze Mark-Parker-Geschichte war total merkwürdig. Ich brauchte Liz’ Hilfe, um das alles zu kapieren.
Liz wurde aus allem schlau. Sie war eine Intelligenzbestie, begabt und schön und lustig und vor allem unglaublich klug. Ich sag das alles nicht bloß, weil sie meine Schwester ist. Wenn ihr sie kennenlernen würdet, würdet ihr mir recht geben. Sie war groß und schlank, hatte blasse Haut und langes, welliges, rötlich goldenes Haar. Mom bezeichnete sie oft als eine präraffaelitische Schönheit, worauf Liz dann die Augen verdrehte und sagte, es wäre ein Jammer, dass sie nicht vor über einhundert Jahren gelebt hatte, zur Zeit der Präraffaeliten.
Liz war eine von der Sorte, bei der Erwachsenen, vor allem Lehrern, der Unterkiefer runterklappte, und wenn sie wieder
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