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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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und Fensterbänke orangerot anzustreichen. »Lasst uns bloß nicht so tun, als wollten wir dazugehören«, sagte sie.
    Mom war Sängerin, Songschreiberin und Schauspielerin. Sie hatte noch nie richtig in einem Film mitgespielt oder eine Platte aufgenommen, aber sie hasste es, wenn man sie als »angehende« Irgendwas bezeichnete, und, ehrlich gesagt, sie war ein bisschen älter als die Leute, die in den Filmzeitschriften, die Mom andauernd kaufte, so bezeichnet wurden. Moms sechsunddreißigster Geburtstag stand bevor, und sie jammerte, dass die Sängerinnen, die gerade so viel Furore machten, wie Janis Joplin und Joni Mitchell, mindestens zehn Jahre jünger waren als sie.
    Trotzdem behauptete Mom immer, ihr großer Durchbruch würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Manchmal wurde sie nach einem Vorsingen ein zweites Mal ins Studio gebeten, aber meistens kam sie dann kopfschüttelnd wieder nach Hause und sagte, die Männer da wären alle bloß Blechklopfer, die ihr noch einmal in den Ausschnitt glotzen wollten. Mom bastelte also an ihrer Karriere, aber viel Geld brachte sie damit nicht nach Hause – noch nicht. Wir lebten überwiegend von Moms Erbe. Das war von Anfang an nicht gerade ein Vermögen gewesen, und als wir nach Lost Lake zogen, waren wir schon ziemlich knapp bei Kasse.
    Wenn Mom nicht nach L.A. fuhr – was ein ziemlicher Schlauch war, denn hin und zurück brauchte sie jeweils fast vier Stunden –, schlief sie meistens lange und verbrachte den Rest des Tages damit, Songs zu schreiben und sie auf einer ihrer vier Gitarren zu spielen. Ihre Lieblingsgitarre, eine 1961 er Zemaitis, kostete ungefähr so viel wie eine Jahresmiete. Außerdem hatte sie eine Gibson Southern Jumbo, eine honigfarbene Martin und eine spanische Gitarre aus brasilianischem Rosenholz. Wenn sie nicht ihre Songs übte, arbeitete sie an einem Musical, das auf ihrem Leben basierte. Es handelte davon, wie sie sich von ihrer spießigen alten Südstaatenfamilie getrennt, ihren bescheuerten Ehemann und eine ganze Reihe von nichtsnutzigen Partnern – samt den vielen Blechklopfern, die nie Partnerstatus erreicht hatten – abserviert und ihre wahre Stimme in der Musik entdeckt hatte. Sie nannte das Musical »Magische Entdeckungen«.
    Mom redete ständig davon, dass magische Entdeckungen der Schlüssel zum kreativen Prozess wären. Und sie wären auch für das Leben wichtig, sagte sie. Magische Entdeckungen. In musikalischer Harmonie, im Regen auf deinem Gesicht und in der Sonne auf deinen nackten Schultern, im Morgentau, der deine Turnschuhe durchnässt, und in den Wildblumen, die du gratis am Straßenrand pflückst, in der Liebe auf den ersten Blick und in den traurigen Erinnerungen an den einen, den du nicht gekriegt hast. »Macht magische Entdeckungen«, sagte Mom immer. »Und wenn das nicht geht«, fügte sie hinzu, »dann seid selbst magisch.«
    Wir drei zusammen sind magisch, sagte Mom oft. Sie versicherte uns, selbst wenn sie noch so berühmt würde, wäre ihr nichts je wichtiger als ihre beiden Mädchen. Wir gehörten zusammen wie Indianer zu ihrem Stamm, sagte sie, wir wären der »Stamm der drei«. Drei sei eine vollkommene Zahl, erklärte sie weiter. Überlegt doch mal. Die Heilige Dreifaltigkeit, drei Musketiere, drei Könige aus dem Morgenland, drei kleine Schweinchen, drei Fragezeichen, drei Schwestern, drei Wünsche, aller guten Dinge sind drei, zum Ersten, zum Zweiten und zum DRITTEN . Wir drei sind uns genug, sagte Mom.
    Das hinderte sie aber nicht daran, sich immer mal wieder mit Blechklopfern zu verabreden.

2
    I n den nächsten Wochen redete Mom ständig davon, wie Mark Parker sie »entdeckt« hatte. Sie meinte das als Scherz, aber man merkte, dass da was Märchenhaftes mit im Spiel war, das ihr gefiel. Es war ein magischer Moment.
    Mom fuhr auf einmal öfter nach Los Angeles – manchmal nur für einen Tag, manchmal auch für zwei oder drei –, und wenn sie zurückkam, schwärmte sie pausenlos von Mark Parker. Für sie war er ein ganz besonderer Mann. Er arbeitete mit ihr an der Partitur für »Magische Entdeckungen«, straffte den Text, forderte bessere Phrasierungen von ihr und feilte an den Arrangements. Mark hatte schon viele Songtexte als Ghostwriter geschrieben, erzählte sie uns. Einmal brachte sie eine LP mit nach Hause und zog das Begleitheft heraus. Mark hatte den Text eines Liebeslieds umkringelt und daneben gekritzelt: »Das hab ich über Dich geschrieben, noch bevor ich Dich

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