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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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sollen wir jetzt machen?«, fragte ich Liz, sobald Mr Spinelli gegangen war.
    »Ich überleg mir was«, sagte Liz.
    »Meinst du, Mr Spinelli hetzt die Fliegelflagel auf uns?«
    »Könnte sein.«
    »Fliegelflagel« war das Wort, das Liz aus ihrem Lieblingsbuch
Alice hinter den Spiegeln
hatte und mit dem sie die übereifrigen Wichtigtuer vom Jugendamt meinte, die überall rumschnüffelten und dafür sorgten, dass Kinder genau die Art von Familie hatten, die sie nach Ansicht der Wichtigtuer haben sollten. Letztes Jahr in Pasadena, ein paar Monate bevor wir nach Lost Lake zogen, war ein Fliegelflagel aufgetaucht und hatte blöde Fragen gestellt, weil der Schuldirektor irgendwie auf die Idee gekommen war, Mom würde uns vernachlässigen, nachdem ich einer Lehrerin erzählt hatte, dass uns der Strom abgestellt worden war, weil Mom vergessen hatte, die Rechnung zu bezahlen. Mom ging an die Decke. Sie sagte, der Direktor wäre bloß einer von diesen aufdringlichen Gutmenschen, und sie beschwor uns, in der Schule ja nichts von zu Hause zu erzählen.
    Falls die Fliegelflagel uns tatsächlich holen kamen, sagte Liz, würden sie uns zwei vielleicht in eine Pflegefamilie oder in eine Besserungsanstalt stecken. Sie könnten uns trennen. Sie könnten Mom ins Gefängnis werfen, weil sie ihre Kinder allein gelassen hatte. Aber Mom hatte uns nicht verlassen, sie brauchte einfach nur mal eine kleine Pause. Wir kamen bestens klar, solange die Fliegelflagel uns nur in Ruhe ließen. Probleme gab’s nur, wenn die sich einmischten.
    »Ich hab eine Idee«, sagte Liz. »Wenn’s sein muss, können wir nach Virginia fahren.«
    Mom stammte aus Virginia, aus einer Kleinstadt namens Byler, wo ihr Vater eine Baumwollweberei gehabt hatte, die so Sachen herstellte wie Handtücher, Socken und Unterwäsche. Moms Bruder, unser Onkel Tinsley, hatte die Weberei vor ein paar Jahren verkauft, aber er und seine Frau Martha lebten noch immer in Byler in einem großen alten Haus, das Mayfield hieß. Mom war in dem Haus aufgewachsen, hatte es aber vor zwölf Jahren verlassen. Da war sie dreiundzwanzig, und das war die Nacht, als sie mich aufs Autodach stellte und losfuhr. Seitdem hatte sie nicht mehr viel mit ihrer Familie zu tun gehabt, war nicht mal nach Byler gefahren, als ihre Eltern starben, aber wir wussten, dass Onkel Tinsley noch immer in Mayfield wohnte, weil Mom ab und zu jammerte, es wäre ungerecht, dass er das Haus geerbt hatte, bloß weil er älter und ein Mann war. Falls Onkel Tinsley je was passierte, würde es ihr gehören, und sie würde es auf der Stelle verkaufen, weil sie nur schlechte Erinnerungen an das Haus hatte.
    Ich erinnerte mich weder an Mayfield noch an Moms Verwandte, weil ich ja erst ein paar Monate alt gewesen war, als wir da weggingen. Aber Liz hatte ein paar Erinnerungen, und die waren überhaupt nicht schlecht. Eigentlich waren sie sogar irgendwie magisch. Sie erinnerte sich an ein weißes Haus auf einem Hügel inmitten von hohen Bäumen und bunten Blumen. Sie erinnerte sich, dass Tante Martha und Onkel Tinsley Duette auf einem Flügel gespielt hatten und durch offene Verandatüren das Sonnenlicht hereinfiel. Onkel Tinsley war ein großer, fröhlicher Mann, der sie an den Händen fasste und herumwirbelte oder sie hochhob, damit sie Pfirsiche vom Baum pflücken konnte.
    »Und wie kommen wir dahin?«, fragte ich.
    »Mit dem Bus.« Liz hatte am Busbahnhof angerufen und sich erkundigt, wie viel die Fahrt nach Virginia kostete. »Die ist nicht billig«, sagte sie, »aber wir haben genug Geld für zwei Fahrkarten. – Falls nötig«, fügte sie hinzu.
     
    Als ich am nächsten Tag von der Schule nach Hause ging und in unsere Straße bog, sah ich einen Streifenwagen vor unserem Bungalow stehen. Ein Polizist in blauer Uniform schirmte die Augen mit den Händen ab und spähte durch das Panoramafenster ins Haus. Dieser Mr Spinelli hatte uns also verpfiffen. Ich überlegte, was Liz in meiner Lage tun würde, und schlug mir dann klatschend auf die Stirn, damit jeder, der mich vielleicht beobachtete, sofort dachte, dass ich was vergessen hatte. Sicherheitshalber rief ich noch laut: »Ich hab meine Hausaufgaben in der Schule liegenlassen!«, drehte mich um und ging zurück.
    Ich wartete vor der Highschool, bis Liz die Stufen herunterkam. »Was glotzt du denn so?«, fragte sie.
    »Die Bullen«, flüsterte ich.
    Liz zog mich von den anderen Schülern weg, die an uns vorbeidrängten, und ich erzählte ihr von dem Polizisten, der bei uns

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