Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
sprechen konnten, benutzten sie Wörter wie »Wunderkind« und »frühreif« und »hochbegabt«. Liz wusste alles Mögliche, was andere nicht wussten – zum Beispiel, wer die Präraffaeliten waren –, weil sie immerzu las, meistens mehrere Bücher gleichzeitig. Außerdem verstand sie vieles auch ohne Bücher. Sie konnte schwierige mathematische Berechnungen im Kopf anstellen. Sie konnte so richtig knifflige Denksportaufgaben lösen und sprach gern Wörter rückwärts aus – Mark Parker beispielsweise hieß bei ihr »Kram Rekrap«. Sie liebte Anagramme. Dabei werden die Buchstaben umgestellt, damit sich ein neues Wort ergibt; so wird zum Beispiel aus »Frauen« »raufen«, aus »Fehler« »Helfer« und aus »Eifersucht« »Feuerstich«. Und sie fand Schüttelreime toll, wie wenn du »Staubsauger« sagen willst und »Saugstauber« herauskommt oder wenn du statt »Meisterklasse« »Kleistermasse« sagst oder statt »Kosake« »Sokacke«. Außerdem war sie im Scrabble fast unschlagbar.
Liz’ Schule war bloß eine Stunde nach meiner aus, aber an dem Nachmittag schien es mir wie eine Ewigkeit. Als sie endlich nach Hause kam, ließ ich sie nicht mal ihre Bücher weglegen, sondern erzählte ihr sofort in allen Einzelheiten von Moms Wutausbruch.
»Ich kapier einfach nicht, wieso sie dieses ganze Mark-Parker-Zeug erfunden hat«, sagte ich.
Liz seufzte. »Mom hat doch schon immer geflunkert«, sagte sie. Mom erzählte uns andauernd irgendwelche Sachen, und Liz kaufte ihr vieles davon nicht ab, wie zum Beispiel, dass sie öfter mit Jackie Kennedy in Virginia auf Fuchsjagd war, als sie beide noch klein waren, oder dass sie mal die tanzende Banane in einer Cornflakes-Werbung war. Oder die Geschichte von der roten Samtjacke. Mom gab gern zum Besten, dass June Carter Cash sie mal in einer Bar in Nashville hatte singen hören, zu ihr auf die Bühne gekommen war, worauf die beiden dann ein Duett sangen, das das Publikum von den Sitzen riss. June Carter Cash, so erzählte Mom, hatte ihr diese rote Samtjacke noch auf der Bühne geschenkt.
»Ist nie passiert«, sagte Liz. »Ich hab gesehen, wie Mom die Jacke auf einem Flohmarkt der Kirche gekauft hat. Sie wusste nicht, dass ich es mitbekommen hab, und ich hab nie was gesagt.« Liz sah aus dem Fenster. »Mark Parker ist auch nur so eine tanzende Banane.«
»Ich hab’s vermasselt, was?«
»Mach dir keine Vorwürfe, Bean.«
»Ich hätte meine große Klappe halten sollen. Aber eigentlich hab ich ja gar nichts gesagt.«
»Sie hat gemerkt, dass du es gemerkt hast«, sagte Liz, »und damit konnte sie nicht umgehen.«
»Mom hat aber nicht bloß eine kleine Geschichte über irgendeinen Typen erfunden, den sie angeblich kennengelernt hat«, sagte ich. »Da waren die Telefongespräche. Und das Begleitheft von dem Album.«
»Ich weiß«, sagte Liz. »Das ist echt bedenklich. Ich glaube, sie hat fast ihr ganzes Geld ausgegeben, und deshalb hat sie jetzt so eine Art Nervenzusammenbruch.«
Liz schlug vor, dass wir das Haus aufräumen sollten, und wenn Mom zurückkam, könnten wir dann so tun, als wäre dieser ganze Mark-Parker-Mist nie passiert. Wir stellten die Bücher zurück in die Regale, stapelten die Notenblätter und schoben die LPs zurück in die Hüllen. Mein Blick fiel auf das Begleitheft, auf das Mark Parker angeblich für Mom geschrieben hatte: »Das hab ich über Dich geschrieben, noch bevor ich Dich kannte.« Es war echt unheimlich.
3
W ir rechneten damit, dass Mom noch am selben Abend oder am nächsten Tag zurückkommen würde, aber dann war Wochenende, und wir hatten noch immer nichts von ihr gehört. Immer wenn ich anfing, mir Sorgen zu machen, sagte Liz, ich sollte ganz ruhig bleiben, Mom käme immer wieder. Und dann bekamen wir den Brief.
Liz las ihn zuerst, dann gab sie ihn mir und setzte sich in den Fledermaussessel am Panoramafenster.
Meine liebste Liz, meine süße Bean,
es ist drei Uhr morgens, und ich schreibe Euch aus einem Hotel in San Diego. Ich weiß, ich war in letzter Zeit nicht gerade in Topform, und um meine Songs fertig zu schreiben – und die Mutter zu sein, die ich sein will –, brauche ich ein bisschen Zeit und Raum für mich. Ich muss wieder magische Entdeckungen machen. Und außerdem bete ich um Ausgeglichenheit.
Ihr beide müsst wissen, dass mir nichts auf der Welt wichtiger ist als meine Mädchen und dass wir bald wieder zusammen sein werden, und dann wird das Leben besser, als es je war!
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