Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
durchs Fenster geschaut hatte.
»Das war’s«, sagte Liz. »Beaner, wir fahren nach Virginia!«
Liz hatte unser Geld immer unter dem Innenfutter in ihrem Schuh, also gingen wir schnurstracks zum Busbahnhof. Liz sagte, das Schuljahr wäre so gut wie zu Ende, und deshalb würden uns unsere Lehrer nicht vermissen. Wir waren ja auch mitten im laufenden Schuljahr aufgetaucht. Außerdem war jetzt Haupterntezeit für Erdbeeren, Aprikosen und Pfirsiche, und die Lehrer waren es gewohnt, dass die Familien von Wanderarbeitern zur Erntezeit sang- und klanglos wieder verschwanden.
Während Liz die Fahrkarten kaufte, wartete ich vor dem Bahnhof und studierte das silbrige Symbol des rennenden Greyhound-Windhundes. Es war Anfang Juni, die Straßen waren ruhig, und der Himmel war reines kalifornisches Blau. Nach ein paar Minuten kam Liz wieder heraus. Wir hatten befürchtet, die Frau am Schalter könnte sich darüber wundern, wieso ein Kind Fahrkarten kaufte, aber Liz berichtete, sie habe sie, ohne mit der Wimper zu zucken, über die Theke geschoben. Es gab also tatsächlich auch Erwachsene, die sich nicht um Sachen scherten, die sie nichts angingen.
Der Bus fuhr um Viertel vor sieben am nächsten Morgen ab. »Sollen wir Onkel Tinsley nicht vorher anrufen?«, fragte ich.
»Ich find’s besser, wenn wir unangemeldet auftauchen«, sagte Liz. »Dann kann er nicht nein sagen.«
An dem Abend aßen wir unsere Hühnerpastetchen, und danach holten Liz und ich die Koffer hervor, von denen Mom sagte, sie stammten noch aus der Zeit, als sie zum Debütantinnenball ging. Es handelte sich um ein passendes Set aus einem hellbraunen, tweedartigen Stoff mit dunkelbraunen Krokodillederleisten und -griffen, mit Scharnieren und Schlössern aus Messing. Sie trugen ein Monogramm mit den Anfangsbuchstaben von Moms Namen: CAH , Charlotte Anne Holladay.
»Was sollen wir mitnehmen?«, fragte ich.
»Klamotten, aber sonst nichts«, sagte Liz.
»Was ist mit Fido?«
»Gib ihm extra viel Futter und Wasser und lass ihn hier«, sagte Liz. »Er hält schon durch, bis Mom wiederkommt.«
»Und wenn Mom nicht wiederkommt?«
»Sie kommt wieder. Sie lässt uns nicht im Stich.«
»Und ich will Fido nicht im Stich lassen.«
Was sollte Liz dagegen sagen? Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Fido kam mit nach Virginia.
Während wir die beiden Debütantinnenzeit-Koffer packten, musste ich an die vielen Male denken, die wir schon Hals über Kopf alles zusammengepackt hatten und abgereist waren. Das machte Mom immer, wenn sie unzufrieden damit war, wie die Dinge liefen. »Wir treten auf der Stelle«, erklärte sie dann, oder »In dieser Stadt gibt es nur Verlierertypen«, oder »Die Luft hier schmeckt schal«, oder »Wir stecken in einer Sackgasse«. Manchmal lag es an Streitigkeiten mit Nachbarn, manchmal an irgendeinem Lover, der sich aus dem Staub gemacht hatte. Manchmal war sie von dem Ort enttäuscht, in den wir gezogen waren, und manchmal schien sie sich einfach in ihrem eigenen Leben zu langweilen. Ganz gleich, woran es lag, sie erklärte jedenfalls, dass es Zeit für einen Neuanfang war.
Im Laufe der Jahre waren wir nach Venice Beach, Taos, San Jose, Tucson gezogen, plus die kleineren Orte, von denen die wenigsten Leute überhaupt je gehört hatten, wie zum Beispiel Bisbee und Lost Lake. Vor Pasadena hatten wir in Seattle gewohnt, weil Mom meinte, es würde ihre kreative Energie in Schwung bringen, wenn wir in einem Hausboot auf dem Puget Sound lebten. Als wir dort ankamen, stellten wir fest, dass Hausboote viel teurer waren, als man meinen sollte, also landeten wir in einem muffigen Apartment, und Mom jammerte ständig über das schlechte Wetter. Drei Monate später waren wir wieder weg.
Liz und ich waren zwar schon oft und lange allein gewesen, aber wir hatten noch nie ohne Mom eine weite Reise unternommen. Das an sich machte mir noch keine großen Sorgen, aber ich fragte mich immer wieder, was uns wohl erwarten würde, wenn wir erst in Virginia ankamen. Mom hatte nie irgendwas Gutes über ihre Heimat erzählt. Immer meckerte sie nur über die hinterwäldlerischen Fusselköpfe, die Autos fuhren, deren Stoßstangen von Klebeband gehalten wurden, und über die Cocktail-Szene, Leute, die in großen alten Villen wohnten, Porträts aus der Ahnengalerie verkauften, um ihre Steuern zu bezahlen und ihre Foxhounds zu füttern, und derweil von der guten alten Zeit schwärmten, als die Farbigen noch wussten, wo sie hingehörten. Das war lange her, als
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