Die Angst der Woche
unser groÃer Dichter Johann Wolfgang von Goethe schuld. Denn das Zergliedern und Analysieren waren seine Sache nicht. Goethe verstand sich als der groÃe Ganzheitsseher, der intuitive Welterkenner, seine Kenntnisse in Mathematik waren, wie er selbst zugab, sehr beschränkt. Und diese Geringschätzung des zahlengestützten statistischen Denkens hat er dem deutschen gehobenen Bildungsbürgertum vererbt. Wie gegenüber vielen Dingen, die man nicht versteht, mischt sich in diese Geringschätzung durchaus auch Respekt, genauso aber auch eine fatale Bereitschaft, als Statistik maskierten Unfug ohne weiteres Hinterfragen auf gut Glück zu glauben.
Nicht dass der korrekte Umgang mit Wahrscheinlichkeiten einfach wäre, selbst Spitzenmathematiker fallen hier immer wieder auf dumme Trugschlüsse herein. Der groÃe Gottfried Wilhelm Leibniz, der Erfinder der Differentialrechnung und einer der gröÃten Philosophen und Mathematiker aller Zeiten, behauptete in einem Brief an einen französischen Kollegen, beim zweimaligen Würfeln sei die Wahrscheinlichkeit für eine Augensumme 10 die gleiche wie für eine Augensumme 9. In Wahrheit, so sieht man sofort beim Abzählen aller Möglichkeiten, ist die Augensumme 9 wahrscheinlicher als die Augensumme 10. Und der französische Mathematiker Jean dâAlembert, Mitverfasser der berühmten Enzyklopädie, behauptet in dem Stichwortartikel »Croix et pile«, bei einem zweimaligen Münzwurf sei die Wahrscheinlichkeit für zweimal Kopf ein Drittel. Und hier weià nun wirklich jedes Schulkind, dass es vier verschiedene Möglichkeiten gibt â Kopf/Kopf, Zahl/Zahl, Zahl/Kopf und Kopf/Zahl â, das heiÃt die Wahrscheinlichkeit für Kopf/Kopf ist ein Viertel. (DâAlembert hatte einen Fehler gemacht ähnlich dem von Leibniz, nämlich die zwei unterschiedlichen Möglichkeiten für »einmal Kopf« zusammenzuwerfen.)
Insofern sind also alle diejenigen im Recht, die das Ansinnen weit von sich weisen, Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen. Wenn das noch nicht einmal die gröÃten Geister richtig können, wie kann man das von einem normalen Zeitungsleser verlangen?
Aber das muss der normale Zeitungsleser doch auch nicht! Es reicht schon, die GröÃenordnungen zu kennen. Die Stellen hinter dem Komma sind dann Sache der Experten. Und dazu könnte etwas mehr Betonung dieses Themas im Mathematikunterricht unserer Schulen schon viel beitragen. Oder warum nicht schon im Kindergarten anfangen? »Ich finde es in einer komplexer werdenden Welt auch wichtig«, höre ich zu meiner Freude von Angela Merkel, »Kinder bereits frühzeitig an solche Abwägungen heranzuführen. Im Kindergarten und in der Schule können Kinder spielerisch lernen, was Wahrscheinlichkeit und Risiko bedeuten.«
Ich weiÃ, das tut dem deutschen Bildungsbürger weh, aber anders geht es nicht. Und dieser Kampf gegen das Innummeratentum ist noch aus anderen Gründen wichtig. Solange wir nämlich nicht mehr Ãbung darin besitzen, logisch zu denken und Wahrscheinlichkeiten zumindest näherungsweise abzuschätzen, wird jeder Versuch der Risikobewältigung, der darauf hinausläuft, die Menschen besser zu informieren, ein Schuss in den Ofen werden. Wie sich nämlich immer wieder zeigt, gehen unter den aktuellen Rahmenbedingungen mit einer besseren Information der betroffenen Bürger die Angst und Panik nicht zurück, sie nehmen eher zu. Ein gutes Beispiel sind Beipackzettel bei Arzneimitteln; sie schaden mehr, als sie nutzen. Wenn Innummeraten erst einmal wissen, was alles passieren kann, aber keinerlei Vorstellung haben, wie wahrscheinlich es passiert, wird genau das Gegenteil des gewünschten Effekts erreicht: Die durch Nichteinnahme von Medikamenten aufgrund von Beipackzetteln verursachten Schäden sind um Zehnerpotenzen höher als die Schäden durch die Medikamente selbst â die Menschen wissen mit den Infos auf den Beipackzetteln nichts Vernünftiges anzufangen und überschätzen die Wahrscheinlichkeiten der möglichen Nebenwirkungen ganz extrem.
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Damit sind wir wieder am Anfang des Kapitels wie auch am Anfang des Buches angekommen. Gegen falsche Angst und kontraproduktive Panik hilft allein Vernunft. »Dummheit ist der Mangel an Urteilskraft«, so zitierte ich zu Beginn Immanuel Kant, »und einem solchen Gebrechen ist nicht
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