Die Angstmacher
»Eigenverantwortung« und um die Notwendigkeit von Verträgen zum Schließen diverser Versorgungslücken geht.
Die Versicherungswirtschaft arbeitet fleißig daran, dass die Verbraucher sich ihrer »Versorgungslücken« bewusst werden. Und sie schreckt nicht vor maßlosen Übertreibungen und Verzerrungen zurück. »Die Horror-Diagnose ›berufsunfähig‹ wird mehr Menschen treffen, als bislang gedacht«, schreibt das Magazin Focus Money . Das Risiko, wegen Krankheit einen erlernten Beruf nicht mehr ausüben zu können, sei höher als bislang angenommen. »Eine Analyse der Versicherungsmathematiker der Deutschen Aktuarvereinigung – sie liegt Focus vor – kommt zu dem Ergebnis: Beinahe jeder zweite heute Zwanzigjährige wird bis zum Rentenbeginn mit 65 Jahren berufsunfähig. Das sind 43 Prozent. Unter den heute Fünfzigjährigen trifft dieses Schicksal jeden Dritten. Frauen sind weniger gefährdet, weil sie seltener in hochriskanten Berufen arbeiten. ›Das Risiko wird fahrlässig unterschätzt‹, sagte der Autor der Untersuchung, Horst Loebus, zu Focus .« 5 Die Quelle »Deutsche Aktuarvereinigung« klingt wie »Katasteramt«, wie eine amtliche Stelle. Tatsächlich ist es aber eine Vorfeldorganisation der Versicherungswirtschaft. Hier sind Mathematiker Mitglied, die zum größten Teil bei Versicherungsunternehmen beschäftigt sind.
Für die Versicherer ist das Geschäft mit der Angst vor Berufsunfähigkeit lukrativ. In ihren Beständen liegen 2,8 Millionen Berufsunfähigkeitspolicen, für die Verbraucher im Jahr 2010 mehr als 2 Milliarden Euro an Beiträgen aufbrachten. Hinzu kommen 13,8 Millionen Verträge, die an Lebens- oder Rentenversicherungen gekoppelt sind und für die weitere Milliardenfließen. Allein 2010 haben mehr als 400 000 Bürger eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen, für die sie im Jahr zusammen 311,7 Millionen Euro zahlen. Würde jeder Vierte oder auch nur jeder Fünfte dieser Kunden tatsächlich berufsunfähig – das würde teuer für die Assekuranz. Deshalb passt die Versicherungswirtschaft ganz genau auf, wem sie eine Police verkauft und wem nicht.
Erst Angst machen und dann abblitzen lassen
Dass jeder Vierte oder Fünfte im Laufe seines Lebens seinen Job aus gesundheitlichen Gründen aufgeben muss, sagt über das individuelle Risiko nichts aus. Das hängt von bereits bestehenden Erkrankungen, dem Beruf, dem Alter und anderen Faktoren ab. Die Gesellschaften wollen jene Erwerbstätigen, die höchstwahrscheinlich nicht berufsunfähig werden. Um diese Gruppe ist ein heftiger Konkurrenzkampf entbrannt. Die Unternehmen stufen Schutzsuchende in Risikogruppen ein. Die Kunden mit einer tatsächlichen oder vermeintlichen hohen Gefährdung sind die »schlechten Risiken« und kommen in die teuerste Gruppe mit der Nummer vier. Wer in Gruppe eins landet, zahlt am wenigsten. Um an die attraktiven Personen mit der kaum bestehenden Gefahr einer Berufsunfähigkeit zu kommen, haben viele Gesellschaften die Risikoprofile neu berechnet. Für junge, gesunde Akademiker sind die Preise gesunken. Früher musste eine dreißigjährige männliche, gesunde Führungskraft mit Verantwortung für zehn Unterstellte bei einem großen Versicherer für eine Rente von 2000 Euro monatlich rund 90 Euro zahlen, jetzt sind es rund 70 Euro. »Bei den schlechten Risiken sind die Versicherer eher noch rigider geworden«, beobachtet Martin Zsohar, Geschäftsführer des Analysehauses für Versicherungstarife Morgen & Morgen. 6 Die »schlechten Risiken« sind Personen, die schwer körperlich arbeiten und weniger verdienen als Hochschulabsolventen am Schreibtisch. Für sie gehendie Kosten für eine Police schnell in die Hunderte Euro pro Monat.
Die Gesellschaften sind ausgesprochen wählerisch. Zu wählerisch, kritisiert der frühere Richter am Bundesgerichtshof und ehemalige Versicherungsombudsmann Wolfgang Römer. Weil sie wissen, dass sie wegen einer zurückliegenden oder einer chronischen Erkrankung eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, berufsunfähig zu werden als andere, wollen gesundheitlich Angeschlagene vorsorgen. Aber sie können es nicht. »Diese Leute wollen Verantwortung für die Absicherung des Risikos tragen, aber die Wirtschaft lässt sie nicht«, kritisiert Römer. 7 Und nicht nur dieser Gruppe verweigert die Assekuranz Schutz. Die Unternehmen überziehen bei der Auswahl genehmer Kunden gewaltig. »Selbst die Rechtschreibschwäche Legasthenie reicht manchen Unternehmen, Kunden abzulehnen«, sagt
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