Die Ankunft
Wellental in eine neue, kräftige Woge brach. Nach einem kritischen Blick in den grauen und wolkenverhangenen Himmel schüttelte er den Kopf.
»Das wird eine lange Nacht«, murmelte er mehr zu sich selbst.
»Sie haben Spätwache?«
»Ja, damit Sie zumindest Schlaf bekommen. Ich lege mich heute Nachmittag hin – und ansonsten sollte mir der Kaffee helfen.«
Becker hob seine mittlerweile geleerte Tasse. »Der weckt in der Tat Tote auf.«
»Das ist auf einem Kriegsschiff sehr hilfreich«, lächelte Rheinberg.
Der Hauptmann stellte die Tasse ab und warf noch einen Blick auf die tosende See. Er hielt sich mustergültig, als die Saarbrücken aus einem Wellental den Bug voraus in einen hohen Brecher krachte und die mit kunstvollen Schnitzereien und Wappen bedeckte Bugspitze den Wasserberg durchschnitt. Das ohrenbetäubende Geräusch der auseinanderdrängenden Wassermassen wurde auf der Brücke nur wenig gedämpft und für einen Moment war jede Unterhaltung unmöglich. Dann hatte sich der Kreuzer freigekämpft. Rheinberg warf erneut einen kritischen Blick in den Himmel. Ein heller Riss hatte sich in der dichten, tiefschwarzen Wolkendecke gebildet, und er schien sich auszuweiten.
»Wir haben Glück«, sagte der Erste Offizier laut, als er sich wieder einigermaßen verständlich machen konnte. »Das Wetter scheint sich ein wenig zu beruhigen.«
In der Tat. Es dauerte knapp weitere zwanzig Minuten, bis der Kreuzer aus dem Gröbsten heraus war, aber dann flaute der Sturm merklich ab und die Windstärke ging auf drei hinunter. Die ersten Seeleute ließen sich auf Deck sehen, wo die mit Persenningen abgedeckten Aufbauten und festgezurrten Vorräte auf ihre Vollständigkeit und Unversehrtheit untersucht wurden. Der Geräuschpegel senkte sich ebenfalls merklich. Rheinberg wirkte nun entspannter und warf dem Steuermann einen anerkennenden Blick zu.
»Ordentliche Arbeit, Hansen!«
»Danke, Herr Korvettenkapitän!«
Becker tippte Rheinberg auf die Schulter.
»Danke für den Kaffee. Ich gehe unter Deck und schaue nach meinen Männern. Sie werden froh sein, wenn die Schaukelei jetzt etwas nachlässt. Wo sind wir derzeit? Die Kameraden werden danach fragen.«
»Längen-und Breitengrade?«
Becker hob abwehrend die Hände.
»Ich hätte es gerne ein wenig plastischer, wenn es geht.«
Rheinberg wandte sich erneut den Seekarten zu und wies nach nur kurzer Orientierung mit dem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle.
»Nördlich Ameland, in niederländischen Gewässern. Genaueres kann ich jedoch erst sagen, wenn wir klarere Sicht haben. Aber wenn Sie nach Backbord schauen …«
Becker folgte dem nun ausgestreckten Arm Rheinbergs und kniff die Augen zusammen. In den weiterhin relativ hohen Wogen vermeinte er, in der Ferne einen Streifen Land ausmachen zu können.
»Ameland?«
»Ja.«
»Das wird mir reichen, wenn ich gefragt werde. Ich verschwinde dann.«
Rheinberg tippte mit der Rechten an seine Schirmmütze.
»Sie sind jederzeit wieder willkommen, Herr Hauptmann.«
*
Rheinberg kam nicht umhin, während der Fahrt durch den Ärmelkanal und die französische Küste entlang unruhig zu sein. Auch während seiner Freiwachen oder außerhalb der eigentlichen Dienstzeit ertappte er sich dabei, nicht entspannen zu können und ruhelos über das Deck zu streifen. Die Mannschaftsmitglieder gewöhnten sich rasch daran und die Divisionschefs merkten, dass es nicht die Absicht des Ersten Offiziers war, unangemeldete Kontrollen durchzuführen. Er wurde gegrüßt, aber Rheinbergs abwesender Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er an ausführlichen Meldungen kein Interesse hatte. Minutenlang stand er mit dem Fernglas bewaffnet an der Reling, und während die Saarbrücken sich durch die unruhige See des Kanals kämpfte, beobachtete er aufmerksam die in der diesigen Gischt fast verschwindende französische Küste. Sein Vater hatte ihn mit zwei Dingen geimpft, mit denen er aufgewachsen war und von denen er sich nicht vollends trennen konnte oder wollte: der Erbfeindschaft mit Frankreich auf der einen Seite und dem Respekt vor der Tapferkeit französischer Soldaten auf der anderen. Als Kavallerieoffizier und junger Mann hatte der ältere Rheinberg im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft und Anteil an dem euphorischen Sieg über den alten Gegner gehabt, ein Sieg, der dem Reich Ansehen, Land sowie finanzielle Mittel gebracht hatte. Frankreich als Feind gehörte zu den festen und unabwendbaren Stützpfeilern des Selbstverständnisses eines deutschen Soldaten, auch
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