Die Ankunft
das hatte Rheinberg in seiner Ausbildung lernen müssen. Tief in seinem Inneren wehrte sich etwas gegen diese Einstellung, ein leiser, nagender Zweifel, eine unausgesprochene Frage, und er sah sich in erstaunlicher Eintracht mit seinem ungeliebten Schwager Karl, der davon sprach, die Feindschaft mit Frankreich durch die »Einheit der Arbeiterklasse« zu überwinden. Obwohl Jan für die sozialistische Rhetorik Karls nichts übrig hatte, war der Gedanke einer Aussöhnung mit Frankreich von gewisser Attraktivität. Die Schilderungen seines Vaters, der immer wieder Respekt vor dem Kampfesmut seiner Feinde geäußert hatte, mochte dazu beigetragen haben. Warum sollten Männer, die mit gleicher Kraft und Entschlossenheit für ihr Heimatland kämpften, wie er selbst dazu bereit war, automatisch seine Feinde sein? Es schien doch mehr Gemeinsamkeiten zu geben, als man sonst zugeben wollte, und das hatte Jan früh zu denken gegeben.
Niemals hätte er gewagt, dies offen zu äußern, auch Karl gegenüber nicht. Und er spürte diese Auswirkung jahrzehntelanger Prägung, als er nervös und in banger Erwartung die französische Küste beobachtete, nicht zuletzt eingedenk der ständig schlimmer werdenden politischen Lage auf dem Kontinent. Krieg lag in der Luft, und dieser Krieg würde Deutschland und Frankreich erneut gegeneinandertreiben, daran hatte niemand Zweifel. Genauso wenig zweifelte Rheinberg daran, dass das Deutsche Reich in diesem erneuten Ringen obsiegen würde, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
Er selbst und sein Schiff mochten gut darin verwickelt werden. Das meiste im westlichen Afrika waren französische Besitzungen, mit einigen britischen Gebieten dazwischen. Die deutschen Kolonien befanden sich in einer schwierigen strategischen Lage. Das kleine Togoland war ein schmaler Streifen Landes, eingeklemmt zwischen französischen und britischen Territorien, und Kamerun war, obgleich größer von Ausdehnung, ebenfalls umgeben von potenziellen Feinden. So gütlich man sich letztendlich 1884 auf der Konferenz von Berlin unter dem Vorsitz von Reichskanzler Bismarck über die Demarkation Afrikas geeinigt hatte, so war doch allen klar, dass im Falle eines Krieges all dies umgehend infrage gestellt werden würde. Afrika würde Kriegsschauplatz und die deutsche Truppenpräsenz war klein; ein Grund dafür, dass die Saarbrücken eine Kompanie Heeressoldaten mit sich trug, eine Kompanie, die letztendlich jedoch keinen Unterschied machen würde. Der Kreuzer hingegen vermochte vielleicht als Handelsstörer etwas ausrichten, die Nachschublinien gefährden, doch auch hier siegte Rheinbergs Realismus vor seiner Zuversicht: Sein Schiff war alt und langsam, und jeder wusste, was neue französische und britische Kreuzer konnten. Die Kriegsmarine hatte bessere und neuere Schiffe, nur gehörte die gute alte Saarbrücken eben nicht dazu, und die Umrüstung auf die neuen Kanonen machte da bloß einen marginalen Unterschied. Der Kleine Kreuzer war relativ schwach gepanzert und die Munitionsvorräte begrenzt, er war kein Linienschiff, das für eine lange Schlacht gebaut worden war. Sollte man eingekesselt werden, würde man entweder in einem neutralen Hafen den Sieg Deutschlands abwarten oder das eigene Schiff versenken und in die Gefangenschaft gehen müssen. Rheinberg würde es vorziehen, rechtzeitig nach Deutschland durchbrechen zu können, um diese eher schmachvolle Variante zu vermeiden. Im Endeffekt war dies eine Entscheidung, die von Krautz würde fällen müssen.
Rheinberg beneidete ihn nicht darum.
Nachdem sie den Ärmelkanal verlassen hatten, entspannte er sich ein wenig. An den Gesichtern der anderen Männer erkannte er, dass es im Grunde jedem so ging. Nur von Klasewitz tat so, als sei ihm das alles völlig egal. Niemand nahm das ernst, nicht einmal der Kapitän, und der Zweite Offizier war klug genug, es nicht zum Thema zu machen. Die Saarbrücken gewann offene See und entfernte sich so weit von der französischen Küste, dass diese nicht mehr erkennbar war, und die Illusion von Freiheit erleichterte die Gedanken Rheinbergs in einem Maße, dass er zu normaler Routine zurückfand.
Die Tage verstrichen und die beiden Mannschaften kamen zunehmend gut miteinander aus. Die große Enge und schwierige Rahmenbedingungen machten Reibereien unausweichlich, und so hatten Rheinberg und Becker einen Drillplan ausgearbeitet, der zwar die normale Routine an Bord aushebelte, aber dafür sorgte, dass alle ständig beschäftigt waren. So
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