Die Apfelprinzessin
uns her. »Clara Leeee!«, rief er. Opa und ich hielten uns an den Händen und versuchten wegzurennen, aber Opa hat ein krankes Bein, deswegen waren wir nicht schnell genug. Der Schnurrbartmann holte uns ein. Das Zauberspray aus seiner großen Sprühdose sprühte er Opa mitten ins Gesicht. Opa musste husten, und dann fiel er um. Ich schüttelte und schüttelte ihn, aber er wurde einfach nicht wach. Der Zauber des Schnurrbartmanns war zu stark.
Als ich aufwachte, hatte ich den Gestank des Insektensprays noch immer in der Nase. Ich hatte solche Angst, dass ich fast zu Mama und Papa gerannt wäre, um sie zu wecken. Aber mit acht ist man vielleicht schon zu groß dafür.
Stattdessen habe ich meine Schwester geweckt. Emmeline und ich haben ein Stockbett. Sie schläft oben, ich schlafe unten.
»Emmeline, bist du wach?«, habe ich gerufen, dabei wusste ich genau, dass sie schlief.
Sie antwortete nicht, also rief ich nochlauter: »Emmeline, bist du wach? Aufwachen! Ich hatte gerade meinen allerschlimmsten Albtraum!« Dann kletterte ich in ihr Bett und stieß sie in den Rücken, um sie zu wecken. Als sie endlich wach war, habe ich ihr lang und breit von meinem Traum erzählt. Von dem gezwirbelten braunen Schnurrbart des Schnurrbartmannes, von seinem Overall und von seinem Atem, der nach Brezeln roch. Davon, wie er Opa und mich irgendwann einholte und Opa das Gift ins Gesicht sprühte.
»Opa sah nicht so gesund aus in meinem Traum.« Ich wollte Emmeline keine Angst einjagen, aber sie musste ja Bescheid wissen.
»Ich finde, Opa sieht ganz gesund aus«, sagte sie. »Außerdem mag ich Brezeln. Und gruselige Träume auch.«
»Stimmt gar nicht«, sagte ich. »Niemand mag Gruselträume.«
»Ich wohl. Ich grusel mich gern. Und am liebsten mag ich Gruselfilme.«
»Du darfst doch gar keine Gruselfilme gucken!« Jetzt hatte ich keine Angst mehr.Ich war nur noch genervt. Meine Schwester kann schrecklich nervig sein.
»Deswegen mag ich ja gruselige Träume. Die sind wie ein Film, bloß noch besser, denn darin bin ich die Hauptperson.«
Danach haben wir Fingerhakeln gespielt, bis wir wieder müde wurden.
Immer wenn ich etwas Interessantes, Gruseliges oder Tolles träume, erzähle ich Opa davon, gleich am nächsten Morgen. Mein Opa kennt sich nämlich mit so etwas aus, er ist ein Traumgenie. Er weiß, was Träume bedeuten, und kann sie erklären. Das kommt daher, dass er aus Korea kommt. Da wissen die Leute solche Sachen.
Ich bin Amerikanerin mit koreanischer Abstammung. Das heißt, ich bin in Amerika geboren, aber mein Blut ist koreanisch. Und deswegen habe ich solche Geheimnisse auch in mir. Sie sind bloß so tief verborgen, dass ich nicht immer drankomme. Aber Opa kann das, und er bringt es mir bei. Eines Tages werde ich genauso gut sein wie er, sogar besser. Sagt Opa. Das liegt daran, dass ich ein Mädchen bin, denn die sind näher dran an diesen Sachen. In Korea, sagt Opa, sprachenFrauen früher mit Göttern und Geistern, und die Leute wollten hören, was die sagten, und haben den Frauen Geld dafür gegeben. Schamaninnen nannte man sie, und alle hörten auf sie und hatten großen Respekt vor ihnen. Klingt doch gut, finde ich!
Ich wollte Opa gern von meinem Traum vom Schnurrbartmann erzählen, aber ich machte mir Sorgen, er könnte einen Schrecken bekommen. Also beschloss ich, kein Wort darüber zu sagen.
Aber natürlich funkte mir Emmeline dazwischen – wie immer. Beim Frühstück am nächsten Morgen sagte sie: »Willst du Opa nicht deinen Traum erzählen, Clara Lee?«
Ich blitzte sie an. »Kümmer du dich um deinen eigenen Kram.«
»Aber du erzählst Opa doch sonst immer, was du geträumt hast«, sagte sie.
Opa setzte sich neben mich. »Clara, du hast geträumt heute Nacht?«
Statt auf seine Frage zu antworten, sagte ich: »Ähm – Opa, kannst du mir bitte Zöpfe flechten?«
»Sicher, sicher, Clara. Kein Problem.« Und als ob er Gedanken lesen könnte, sagte er dann noch: »Erzähl von deinem Traum.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wollte ihm doch keine Angst machen. Also fragte ich: »Hat Papa alle Rice Crispies aufgegessen, Opa?«
»Ja. Aber du kannst Cornflakes haben.« Opa reichte mir die Schachtel. »Clara-ja, warum erzählst du mir nicht von deinem Traum?«
Ich biss mir auf die Lippe. »Weil – weil er zu schrecklich war, Opa.«
»Schrecklich?« Opa horchte auf. »Erzähl mehr.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Es ist zu gruselig.«
»Gruselig? Was meinst du
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