Die Apothekerin
frisch verstorbenen Maulwurfs.
Damals bildete ich mir noch ein, der Liebling meiner Familie zu sein: ein fleißiges, nettes Mädchen, das bereitwillig seine kleinen Kopftücher trug. Auch als ich in die Schule kam, erfüllte ich alle Erwartungen; eine interessierte Schülerin, die später vor allem in den Naturwissenschaften brillierte. Schon mit zehn Jahren sammelte ich Pflanzen, preßte sie und legte mir ein Herbarium an, das ich immer noch besitze. Alles an mir und meiner Habe mußte säuberlich und wohlgeordnet sein, mein Zimmer war mustergültig aufgeräumt, meine Spielgefährtinnen suchte ich nach meinem Ebenbild aus, meine Regenwürmerzucht im Keller war hygienisch von den gelagerten Äpfeln abgeschottet.
In der Gesamtschule stieß mein leistungsorientiertes Verhalten dann keineswegs mehr auf die Gegenliebe der Mitschüler. Meine Eigenart, wichtige Sätze in den Lehrbüchern gewissenhaft mit einem Lineal und gelbem Leuchtstift anzustreichen, wurde lächerlich gemacht: Sie sprachen von streberischer Vergilbung. Vergeblich mühte ich mich um Freundinnen. Das permanente Lob der Lehrer verschlimmerte nur meine Lage.
Als ich zwölf Jahre alt war, passierte es. Während einer kurzen Pause verließ die Lehrerin den Raum, und auch ich eilte auf die Toilette, die ich aus Nervosität viel zu oft aufsuchte. Anschließend wollte ich zurück ins Klassenzimmer, doch die Tür ließ sich nicht mehr öffnen. Mindestens ein Dutzend Kinder stemmte sich von innen dagegen, man hörte unterdrücktes Flüstern und Gekicher. Eigentlich geriet ich nicht besonders schnell in Panik, aber an jenem tristen Januartag war mir schon den ganzen Morgen jämmerlich gewesen, und nun konnte ich die Tränen nicht mehr unterdrücken. Mit aller Kraft warf ich mich gegen die graugestrichene, verkratzte Holztür, die mich von allen anderen trennte. Der Unterricht fing in wenigen Minuten wieder an, ich hätte nur auf den Gong warten müssen, und alle wären beim Eintreffen der Lehrerin mit Unschuldsmienen auf ihre Plätze gehuscht. Aber ich nahm die Situation allzu ernst und einen Anlauf.
Die Tür gab nach, als hätte man sie niemals zugehalten, und ich schoß wie eine Kanonenkugel über die Schwelle. Ich spürte noch eben, daß die Messingklinke in meiner Hand hart anschlug, dann krachte ich auf den grünen Linoleumboden, und fast gleichzeitig trat die Lehrerin ein. Meine Feinde wirbelten wie Irrwische auf ihre Stühle.
Natürlich wurde ich befragt. Ich erzählte nichts, Verrat hätte man nie verziehen. Bald herrschte wieder Ruhe, aber ein Junge fehlte. »Axel ist hinausgetaumelt«, behauptete meine Nachbarin. Die Lehrerin schickte einen Kundschafter los, der aber unverrichteter Dinge zurückkam. Schließlich ging sie selbst auf den Flur, rief, begab sich sogar zu den Bubenklos und kam ihrer Aufsichtspflicht gebührend nach. Schließlich meinte einer, Axel sei wohl nach Hause gelaufen, weil er befürchtete, ich würde ihn anschuldigen. Da er ständig einen Grund fand, die Schule zu schwänzen, erschien es glaubwürdig.
Vier Stunden später wurde Axel gefunden. Wie man bei der Obduktion feststellte, hatte ich ihm die Türklinke mit aller Kraft in den Schädel gerammt. Unglücklicherweise hatte er gerade durchs Schlüsselloch gespäht, als die anderen unvermittelt die Tür losließen. Axel hatte sich ins LandkartenDepot geflüchtet, wahrscheinlich aus Angst vor Bestrafung und benommen durch einen scharfen Schmerz im Kopf. Er war an einer massiven Hirnblutung gestorben.
Es gab eine polizeiliche Untersuchung, an die ich mich kaum erinnere. Als die ersten, mehr oder weniger anonymen Zettel auf meinem Platz lagen, ließen mich meine Eltern die Schule wechseln. MÖRDERIN stand auf ausgerissenen blaulinierten Papierfetzen.
Mein Vater betrachtete mich gelegentlich sehr lange, mit Tränen und unendlicher Müdigkeit in den Augen.
Man nahm mich von der Schule und steckte mich in ein Mädchengymnasium, das von Ursulinerinnen geleitet wurde, und ich verhielt mich angepaßt und artig. Bloß nicht auffallen, war meine Devise. Im übrigen gab es keine Feindseligkeiten gegen mich; der Mord an Axel hatte sich nicht herumgesprochen, denn meine neue Schule lag in einer anderen Gemeinde. Ich galt als etwas langweilige Musterschülerin und war es zufrieden. Das änderte sich erst, als ich sechzehn wurde und eine unbestimmte Sehnsucht nach einem männlichen Gegenpol in mir wuchs.
Die Erinnerung daran plagt mich jetzt, wo ich hier liege und nicht fort kann, Tag und
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