Die Apothekerin
Nacht.
Man hat wenig Ruhe in diesem Krankenhaus, wo man selbst in der ersten Klasse wider Willen im Doppelzimmer liegt. Ich kann hier nichts Vernünftiges lesen. Die permanenten Störungen durch das Pflegepersonal, das ständige Fiebermessen, Tablettenschlucken, mangels anderer sinnlicher Freuden, das Warten auf schlechtes Essen, das mehr oder weniger unfreiwillige Belauschen fremder Besucher - das alles preßt die Tage in ein starres Korsett. Früh löschen wir das Licht. Ich erzähle wie Scheherezade immer speziellere Details aus meinem Leben; dagegen hat Frau Hirte, meine Bettnachbarin, wohl keine Intimitäten zu berichten. Bei einer alten Jungfer ist weder ein aufregendes Liebesleben noch ein richtiger Skandal zu erwarten. Sie liegt in der Heidelberger Frauenklinik, weil man ihr die Gebärmutter entfernt hat. Es sei bloß ein Myom, behauptet sie, eine harmlose Geschwulst, die aber Beschwerden mache. Ich denke, es ist Krebs.
Gut, daß mir Pawel die Fotoalben gebracht hat. Ich sehe sie mir häufig an, eine echte Alternative zum Lesen. Gelegentlich zeige ich sogar meiner Nachbarin einige Bilder. Mit ihren achtundfünfzig Jahren und dem bläulich getönten Haar ist sie ein krasser Gegensatz zu mir. Sie bekommt fast nur von einer noch älteren Frau Besuch, die hauptsächlich über ihren Hund und eigene Krankenhauserfahrungen redet. Wenn Pawel bei mir am Bett sitzt, betrachtet Frau Hirte ihn nicht ohne mattes Interesse; während wir leise plaudern, stellt sie sich schlafend, aber ich bin sicher, daß sie bei meinen Besuchern ebenso lauscht, wie ich es bei den ihren tue.
Meine Nachbarin weiß inzwischen von dem Stigma als Mörderin, das man mir mit zwölf Jahren aufdrückte. Sie hörte sich das mit unverhohlener Neugier an.
Wahrscheinlich erzähle ich dieser Unbekannten aus meinem Leben, weil es für mich eine Art Therapie ist, die im Gegensatz zu der berühmten Couch nichts kostet. Jedenfalls merke ich, daß es mir hilft, einer fremden Frau, die ich wohl niemals wiedersehen werde, wie einer Beichtmutter in der trüben Dämmerung unseres Krankenzimmers meine Erlebnisse anzuvertrauen.
Gern hätte ich sie geduzt, aber als Jüngere stand mir das nicht zu. Um einen Anfang zu machen, bot ich ihr an, mich einfach Hella zu nennen. Aber sie ließ mich abblitzen. Was soll man auch von einer Frau erwarten, die selbst zu ihrer sogenannten Freundin »Frau Römer« sagt.
»Wenn Sie siebzehn wären, Frau Moormann, dann ließe sich darüber reden…«
Ärgerlich versetzte ich: »Immerhin könnten Sie ja meine Mutter sein.«
Damit hatte ich einen Nerv getroffen: Es blitzte hinter den Brillengläsern. Aber wir vertragen uns dennoch gut. Ich finde es originell, daß diese Frau den Verlust ihrer Gebärmutter betrauert, während sie Schmerzen wie ein Soldat erträgt. Schließlich ist das herausgenommene Organ in ihrem Alter so überflüssig wie ein Kropf.
Manchmal, wenn sie auf dem Klo ist, betrachte ich mir ihre Habseligkeiten in der Nachttisch Schublade und im Schrank: Aus einem Schreiben der Krankenkasse gehen zwar ihr Geburtsdatum, ihr Zivilstand (ledig) und ihr Vorname (Rosemarie) hervor, aber persönliche Briefe gibt es nicht, auch keine Fotos. Schmuck und Geld hat sie im Safe deponiert, wie sie mir selbst sagte. Es sei leichtsinnig, größere Wertgegenstände unbeaufsichtigt im Zimmer aufzubewahren. Arm ist sie wohl nicht, sonst könnte sie sich nicht die Zusatzversicherung für die erste Klasse erlauben. Auch ihr Parfüm, die Schlafanzüge, der Morgenmantel sind teuer und überaus korrekt.
Vor kurzem habe ich erzählt, wie ich als ganz junges Ding ein Doppelleben führte. Ich konnte ihr Gesicht im Dunkeln nicht sehen, aber ich war sicher, daß sie es verzog.
Ich liebte Männer, denen es noch schlechter ging als mir. Meine unpassenden Abenteuer blieben zwar meinen Lehrerinnen und Mitschülerinnen verborgen, nicht aber meiner schockierten Familie. Wahrscheinlich habe ich in jener Zeit meinem Vater das Herz gebrochen. Sein unschuldiges blondes Kind trieb sich mit schrägen Vögeln und krummen Hunden herum, die ihm besser nie unter die Augen gekommen wären. Und zu allem Unglück verwuchs sich dies auch nicht mit der Pubertät. Wie ich früher meinen Puppen die Beine abgedreht hatte, um sie wieder zusammenzuflicken, so suchte ich später kranke Männerseelen, um sie zu heilen. Es half mir über meine eigenen Probleme hinweg, wenn ich stark genug war, fremde zu lösen.
Auf den Kinderfotos habe ich ein sehr waches, ja
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