Die Apothekerin
schalkhaftes Gesicht. Meine braunen Augen registrierten alles genau. Ich versuche darin zu lesen - spricht aus ihnen damals schon dieses Verlangen, mir Liebe durch Hätscheln und Hegen zu erringen? Dieses sehr weibliche Bedürfnis, das sich normalerweise auf Kleinkinder bezieht, aber auch im Gärtnern, Kochen und Pflegen ausgelebt wird, suchte sich bei mir vor allem männliche Opfer. Meine Eltern hätten mich in jener Zeit babysitten lassen oder mir ein Pferd kaufen sollen. Statt dessen rahmten sie meine Zeugnisse ein.
Anfangs war es mir gar nicht bewußt, daß mich Außenseiter, Kranke und Neurotiker magnetisch anzogen. Schon als Schülerin hatte ich einen Freund, der heroinabhängig war und von mir gerettet werden wollte. Ich aß in jener Zeit pfundweise Schokolade, diskutierte nächtelang mit meinem weinerlichen Liebsten und stahl meinen Eltern Geld, Zigaretten und Alkohol. Wenn er nicht ins Gefängnis gekommen wäre, würde ich heute noch an seiner Entziehung arbeiten. Damals war ich nämlich treu wie Gold.
Der nächste war ein arbeitsloser Seemann. Selbstverständlich fehlt in meiner Sammlung auch nicht der Depressive, der chronisch Kranke, der gerettete Selbstmörder und der entlassene Häftling mit dem tätowierten Geier auf der Brust.
Auch mein Beruf als Apothekerin hat meine Kollektion schon bereichert: Trotz aller Vorschriften öffnete ich einem Schmerzgeplagten, der nachts Medikamente brauchte, nicht bloß die Rezeptklappe, sondern die Tür.
Um meine eigene Rolle in diesen Tragödien ein für allemal zu klären, habe ich wiederholt eine Therapie begonnen, aber stets wieder abgebrochen. Die Heilung meiner Schützlinge nahm meine gesamte Zeit in Anspruch. Dabei war mir auch ohne Therapeuten klar, daß ich, die nach außen Brave, von allem angezogen wurde, was außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stand.
Ich hatte Angst vor diesem Abgrund in mir; ich träumte zuweilen, von einem meiner Liebhaber ermordet worden, tot zu sein, ohne je ein Kind geboren zu haben. Dann wachte ich mit einem Gefühl der Wertlosigkeit auf, denn ein Leben ohne Mutterschaft erschien mir vertan. Bei aller Intelligenz und Tüchtigkeit, die ich besitze, habe ich immer gewußt, daß mein kreatürlicher Teil ebenso wichtig ist. Wenigstens einmal im Leben wollte ich wissen, wie es wäre, eins mit der Schöpfung zu sein und zu gebären. Die Sanduhr lief. Ein Kind bedeutete für mich sehr viel: ein kleines Wesen, das man nach eigenem Ermessen formen kann, mit dem man anstellen kann, was man will, das man beschenken und beschützen darf nach Herzenslust. Das Kind wollte ich an allem teilhaben lassen, was mein Leben bestimmte. Es sollte ihm an nichts mangeln, weder an Liebe noch an Zopfspangen. Ich wollte ihm einen vorbildlichen Papa vorsetzen, der einen ordentlichen Beruf und ein gesichertes Auskommen hatte, aus guter Familie stammte und über Intelligenz verfügte. Meine damaligen Gefährten waren indiskutabel für diesen Zweck.
Frau Hirte schnarchte.
2
An einem Sonntag besuchte mich Dorit, meine Jugendfreundin. Sie kann nur kommen, wenn Gero auf die Kinder aufpaßt. Mitten in unser Plauderstündchen trampelte die Visite. Dorit ging anstandshalber auf den Flur. Die üblichen Standardfragen: »Geht’s gut? Probleme mit den Krampfadern? Tut die Naht weh?«
»Wann kann ich heim?« fragte Frau Hirte.
Der Stationsarzt trifft ungern Entscheidungen, so weit sollte sie ihn kennen. Mit einem Blick auf den Urinbeutel sagte er ironisch: »Möchten Sie mit einem Dauerkatheter entlassen werden?«
Als Dorit wieder neben mir saß, erzählte ich ihr, daß wir Dr. Kaiser nicht leiden konnten - ausnahmsweise nickte Frau Hirte bestätigend -, im Gegensatz zu Dr. Johannsen, dem Oberarzt. »Aber der schaut einem um zwei Sekunden zu lang in die Augen«, sagte ich zu Dorit, »du weißt ja, daß man sich dann nur allzu leicht verliebt.«
Meine Freundin lachte, frech oder liebenswürdig bezog sie Frau Hirte in das Gespräch mit ein. »Hella hat recht, finden Sie nicht auch?«
Meine eingetrocknete Nachbarin knurrte, zog die Welt am Sonntag heraus und begann den Wirtschaftsteil zu lesen.
Man kann tage-, beziehungsweise nächtelang über die eigene Familie erzählen, aber die meisten Frauen hören lieber Männergeschichten. Ich gehe davon aus, daß Frau Hirte nicht mehr lange leben wird und nichts ausplaudern kann - also will ich ihr noch ein paar aufregende, schlaflose Stunden bieten. Meistens gibt sie keinen Kommentar zu meinen Schilderungen, aber
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