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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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nur ein harmloses Beispiel für mögliche Unwahrheiten. Die Welt konnte so aussehen oder anders. Für ihn existierte sie auf eine einzige mögliche Weise, nämlich in der Form, die ihm seine Augen gestatteten. Sein Ich, das war ein blindes Etwas in einem Käfig. Sein Ich war alles, was sich innerhalb seiner Haut befand. Die Augen, sie gehörten dazu – und auch nicht.
    Die Computerstimme meldete, daß er das eingegebene Ziel erreicht hatte. Er zog sich die Brille vom Kopf.
    Vorstadt. Oder ein Randbezirk. Vor den Gartenzäunen parkten teure Autos. Auf den Einfamilienhäusern waren Satellitenschüsseln angebracht, die Balkone waren mit Pflanzen verziert. An der nächsten Kreuzung sah Jonas einen abgebrochenen Ast auf der Fahrbahn liegen.
    Die Straße kam ihm bekannt vor. Er las die Adresse. Etwas leuchtete in ihm auf, doch er konnte es nicht festhalten. Erst als er ausstieg, kehrte die Erinnerung zurück. Die Villa, vor der er stand, war hundert Meter entfernt von jener, die er vor Wochen durchsucht hatte. Zu der er von seinen eigenen Telefonkommandos geführt worden war und in der er sich ein bestimmtes Zimmer zu betreten gescheut hatte.
    Am Gartentor las er den Namen. Dr. August Lom. Er läutete, drückte die Klinke. Das Tor öffnete sich mit einem Rattern.
    Für eine Sekunde sah er ein zotteliges Vieh, das in diesem Augenblick auf der anderen Seite des Hauses im Garten tanzte. Es warf seine lange Zunge hin und her, so daß sie an die Ohren klatschte, und wartete nur darauf, daß er sich hineinwagte.
    Vor der Haustür, an der ein aus Tannenzweigen geflochtener Kranz hing, nahm er das Gewehr von der Schulter. Er horchte in die Stille. Lud die Waffe durch. Konzentrierte sich.
    Etwas sagte ihm, daß er nun leer war.
    Er rüttelte an der Tür. Versperrt. Er schlug ein Fenster ein. Die Alarmanlage ertönte. Er nahm sie nicht länger als eine Sekunde wahr, dann glitt sie in den Hintergrund. Schon als er die Füße auf den Teppichboden im Flur setzte, hörte er nichts mehr und roch er nichts mehr. Er marschierte.
    Ein Zimmer. Möbel, Fernseher, Bilder.
    Ein weiteres Zimmer. Möbel. Pflanzen. Etwas Fremdes, Irritierendes. Unordnung.
    Nächstes Zimmer. Turnmatten, Punchingball, Hometrainer.
    Nächstes Zimmer. Dusche, Badewanne, Wäscheständer.
    Mit starrem Blick und zackigen Bewegungen erforschte er die Wohnung, stellte die Alarmanlage ab, stampfte über Teppiche, befühlte Gegenstände, lief hinab in den Keller und hinauf in den Speicher. Ab und zu funkte ihm ein heller Teil seines Bewußtseins eine Warnung, die ihn die Hand zurückziehen oder kehrtmachen ließ.
    Als er wieder vor dem Haus stand und allmählich zu sich zurückfand, war er überzeugt, daß ihm nichts in diesem Haus weiterhelfen konnte. Und mehr hatte er nicht wissen wollen.
    Als er ins Auto stieg, merkte er, daß er nach Schweiß roch. Es war jener scharfe Geruch, den er verströmte, wenn er sehr angespannt war. Er ärgerte sich. Er brauchte sich nicht zu fürchten. Er hatte es bewiesen, in Kanzelstein, in jener Nacht.
    Ihn durchzuckte die Idee, die Scheuklappenbrille aufzusetzen und noch einmal ins Haus zu gehen. Und zwar ohne Gewehr.
    »Aber bestimmt nicht«, rief er und wendete den Wagen.
    Von der Terrasse der Sky-Bar starrte er auf den Dom. Seine Kaffeetasse stand unberührt neben ihm auf dem Tisch. Ohne es sich recht bewußtzumachen, schluckte er zwei Diclofenac. Etwas störte ihn. Erst nach Minuten begriff er, daß sie ihm in der Kehle steckengeblieben waren. Das passierte ihm ständig, und es ärgerte ihn zunehmend. Er spülte mit Wasser nach.
    Er wanderte auf der Terrasse umher und schlug sich die Arme um den Leib. Er spuckte über das Geländer und sah zu, wie die Spucke auf das Vordach darunter klatschte.
    Gut. Er war soweit. Er mußte fort. Am besten noch heute. Das würde er nicht schaffen, aber vielleicht wurde er bis morgen mit allen Vorbereitungen fertig.
    Nüchtern betrachtet, war zumindest ein Drittel der Welt für ihn unerreichbar. Er konnte nach Berlin reisen, nach Paris, nach Prag, nach Moskau. Er konnte die chinesische Mauer besichtigen, ihm stand der Weg zu den saudi-arabischen Ölfeldern offen, er konnte das Basislager des Mount Everest besuchen. Wenn er Kraft für einen zweiwöchigen Fußmarsch hatte und sich an die Höhe gewöhnte. Wohin er nicht gelangen würde, das war Amerika. Und Australien. Und die Antarktis.
    Mit einem Gefühl von Neid erinnerte er sich an seinen Jugendtraum. Einmal im Leben, das hatte er sich geschworen,

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