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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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würde er im Eis stehen und das Schild berühren, auf dem Geographic South Pole zu lesen war. Wie auch immer er hinkommen würde, ob mit einer klassischen Expedition, die nur noch selten unternommen wurden und die ihn wohl eher nicht aufnehmen würden, oder ob ihn eine gemietete russische Militärmaschine absetzte, er wollte diese Tafel berühren. Dabei die Augen schließen und an daheim denken. Wie in diesem Moment Marie Besorgungen erledigte, wie sein Vater den Schachspielern im Park zusah, wie Martina im Büro einen Entwurf zurückwies. Wie in seiner Wohnung der Wecker tickte. Unbemerkt, weil niemand da war. Für den Wecker spielte es keine Rolle, ob Jonas am Südpol stand oder nebenan in der Küche. Er war nicht da. Der Wecker war allein.
    Diese Tafel zu berühren, im weißen Nichts. Nicht etwa einen Spaziergang oder eine kurze Autofahrt, sondern fünfzehn Flugstunden entfernt von der Zivilisation. Das war sein Traum gewesen. So weit nach Süden zu gelangen wie möglich. Fernstweh.
    Er würde niemals den Pol sehen.
    Er setzte sich wieder und legte die Füße auf das Geländer. Er ließ den Blick über die Dächer schweifen. Wie alt diese Häuser wohl sein mochten? Hundertfünfzig Jahre? Dreihundert? Und wie viele Menschen mochten in ihnen gelebt haben? Die Welt änderte sich nur im kleinen, zumindest jene, die er gekannt hatte. Das dafür jedoch ständig und nachhaltig. In jeder Sekunde wurde jemand geboren, in jeder Sekunde starb jemand.
    Österreich. Was war das, Österreich? Die Menschen, die in diesem Land lebten. Wenn einer starb, bedeutete das keine entscheidende Veränderung. Jedenfalls nicht für das Land. Nur für den Betreffenden selbst. Und seine Angehörigen. Es war kein so anderes Österreich, wenn jemand gestorben war. Aber verglich man das Österreich von noch vor ein paar Wochen mit dem vor hundert Jahren, konnte man kaum behaupten, daß da kein Unterschied bestand. Niemand, der damals in diesen Häusern gewohnt hatte, lebte noch. Alle tot. Alle waren einzeln weggegangen. Großer Unterschied für sie. Kein Unterschied für das Land.
    »Österreich«. »Deutschland«. »USA«. »Frankreich«.
    Die Menschen lebten in Häusern, die sie geerbt, und gingen über Straßen, die andere lange vor ihnen gepflastert hatten. Dann legten sie sich ins Bett und mußten sterben. Platz machen für ein anderes »Österreich«.
    Jeder starb für sich allein. Statistiken, Mitbürger, Gemeinschaft, Wir, Fernsehen, Fußballstadion, Zeitung. Alle lasen das, was einer in der Zeitung schrieb. Wenn er starb, lasen alle das, was sein Nachfolger schrieb. Alle dachten, aha, das ist der, er schreibt dieses und jenes. Und war er unter der Erde, sagten sie, aha, ein Neuer, er schreibt dies. Gingen nach Hause und waren noch immer Teil eines Ganzen. Legten sich ins Bett und starben und waren aber plötzlich nicht mehr Teil eines Ganzen. Nicht Mitglied des Alpenvereins und der Akademie der Wissenschaften und der Journalistengewerkschaft und des Fußballklubs. Nicht mehr Kunden des besten Friseurs und Patienten der netten Ärztin. Nicht: Mitbürger. Sondern: einer. Einer, der starb.
    Für die Menschen, die verschwunden waren, machte es einen Unterschied. Oder nicht? Machte es nur für ihn, den Zurückgebliebenen, einen Unterschied?
    Er räumte die Ladefläche des Lkws vollständig aus. Mit Besen und Schrubber säuberte er Boden und Wände, bis das Blech beinahe seine ursprüngliche Farbe wiedergewonnen hatte. Dann legte er den hinteren Bereich mit einem Teppich aus, der selbsthaftend war und auf dem nichts von dem, was man darauf stellte, leicht verrutschen würde.
    Aus einem Einrichtungshaus am Lerchenfelder Gürtel rollte er eine Sitzgarnitur und ein zusätzliches Sofa. Er schaffte alles im Lkw nach hinten. Er stellte einen massiven Couchtisch dazu, einen verschließbaren Fernsehschrank, in den er einen Fernseher und einen Videorekorder sperrte, zwei Stehlampen mit breitem Sockel und einen zusätzlichen Fauteuil. Er warf Decken und Kissen auf das Sofa. Daneben legte er einen zusammengebundenen Stapel Clever & Smart-Hefte. Er schob einen Kühlschrank an die Wand. Das Kabel steckte er an eine Stromstation an, die er im Maschinenpark Süd besorgt hatte. Zwei Generatoren nahm er auch mit.
    Er füllte den Kühlschrank mit Mineralwasser, Fruchtsaft, Bier, Limonade, Gewürzgurken und anderen Lebensmitteln, die gekühlt besser schmeckten. Er stellte Kisten voll Konserven, Vollkornbrot, Kuchen, Zwieback, Haltbarmilch und dergleichen

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