Die Arbeit der Nacht
entschieden sie sich, gleich am Kanal beim Griechen zu Abend zu essen. Mit der Dämmerung kamen die Moskitos. Ihn wollten sie nicht stechen. Marie hingegen hatte kein Mückenöl und keine Duftkerze geholfen, anderntags war sie mit Dutzenden roten Beulen erwacht.
Er wandte sich mit einem Ruck um.
Niemand stand da.
Leise rauschte unter ihm der Donaukanal hinweg.
Er ging weiter. Die Zahnschmerzen kehrten zurück. Er befühlte seine Backe. Sie war nun eindeutig geschwollen.
In der Küche eines Restaurants am Franz-Josef-Kai fand er mehrere Tiefkühlgerichte. Er wärmte eines in einer Pfanne. Beim Essen war er vorsichtig. Trotzdem stieß er einmal mit der Gabel gegen den kranken Zahn. Eine Welle des Schmerzes ließ ihn erstarren. Erst nach Sekunden, als das heiße Pulsieren abebbte, schrie er auf.
In der Marc-Aurel-Straße parkte ein Mercedes, hinter dessen Windschutzscheibe ein dunkler Kasten klemmte. Satellitennavigation. Der Zündschlüssel steckte. Jonas startete den Motor, danach schaltete er die Anlage ein.
»Guten Tag«, schnarrte eine roboterhafte Frauenstimme.
Unschlüssig tippte er sich durch die Benutzermenüs. Er wählte die Mariahilfer Straße und gab die Hausnummer des Einkaufszentrums ein.
»Nach 50 Metern links«, sagte die Computerstimme. Zugleich leuchteten am Display die Zahl 50 und ein nach links weisender Pfeil auf.
An der nächsten Kreuzung bog Jonas links ab. Wieder meldete sich die Stimme, und das Display signalisierte, daß er nach 75 Metern abermals links abzubiegen hätte. Er gehorchte. Fünf Minuten später stand er vor dem Kaufhaus.
Im Sportartikelgeschäft besorgte er eine Schwimmbrille, aus dem Papiergeschäft das, was er sonst noch benötigte. Auf der Motorhaube des Mercedes bastelte er aus Karton für die Brille zwei Scheuklappen. Ehe er sie anklebte, bemalte er das Plastik der Fenster mit schwarzem Stift. Nur einen Schlitz ließ er frei.
Er prüfte die Sicht. Sie sollte ausreichen, um Kollisionen zu vermeiden. Nun klebte er die Scheuklappen fest. Er setzte die Brille auf. Ohne hinzusehen, wählte er im Register der Navigationsanlage eine zufällige Straße. Blind tippte er eine Hausnummer ein.
»Die angegebene Adresse existiert nicht.«
Er nahm die Brille ab. Er hatte die Zieglergasse 948 eingegeben. Offenkundig war es ratsam, für die Hausnummer nur zwei Tasten zu drücken.
Wieder setzte er die Brille auf. Er versuchte es noch einmal. Für die Hausnummer tippte er nur eine Taste.
»Nach 150 Metern links«, sagte die Computerstimme.
Schon bald verlor er die Orientierung. Die Ringstraße hatte er hinter sich gelassen, doch er war sich nicht sicher, wo er abgefahren war. Er konzentrierte sich darauf, nicht an der Bordsteinkante anzustreifen, und kümmerte sich nicht weiter darum, durch welche Straße er fuhr.
In diesem Augenblick schwebte einige hundert Kilometer über ihm ein Satellit, der dem Gerät vor seiner Nase Anweisungen funkte. Wider besseres Wissen stellte sich Jonas ihn als eine Kugel vor, aus der an allen Seiten Antennen ragten. Wie auch immer der Satellit beschaffen war, fest stand, daß er sich hoch oben in einer Umlaufbahn um die Erde befand. Und daß niemand ihn sah. Er war dort oben, ganz allein, und funkte Daten.
Jonas stellte sich die Kugel vor. Wie sie flog. Wie es ringsum aussah. Wie sich unter ihr der blaue Planet drehte. Wie sie den Anblick der Erde würdigte. Und dies alles ganz allein, ohne menschlichen Zeugen. Doch daß es geschah, war sicher. Der Beweis war eine Roboterstimme, die ihn anwies, die nächste Straße rechts zu nehmen, das dritte Haus auf der linken Seite sei sein Ziel.
Die Zahnschmerzen wurden immer bohrender. Ihm verging die Lust auf weitere Erkundungstouren. Er drückte eine Parkemed aus der Verpackung. Sie blieb ihm im Hals stecken. Er hielt an einem Kiosk und nahm eine Dose Limonade. Er spülte die Tablette hinunter.
Er parkte den Mercedes vor dem Kaufhaus Steffl. Während der Fahrt im Panoramalift winkte er nach allen Seiten, den Handrücken nach außen. Mit einem Kamillentee setzte er sich an denselben Tisch wie am Vortag. Seine Mineralwasserflasche stand unberührt da. Vor ihm ragte der Stephansdom auf. Der Himmel war blau und klar.
Nach einer Weile ließ der Schmerz nach. Das dumpfe Ziehen in der Backe blieb, doch Jonas war so froh darüber, wenigstens schmerzfrei zu sein, daß er mit dem Stuhl zu wippen begann und dabei einen Bierdeckel nach dem anderen über das Geländer in die Tiefe segeln ließ.
Von allen Bändern,
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