Die Arbeit der Nacht
Schmerz so lange wie möglich bannen. Seine Backe pochte.
Er befühlte seine Stirn. Wahrscheinlich hatte er Fieber. Ihm lag nichts daran, ein Thermometer zu holen und sich zu überzeugen. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.
Was tat er, wenn es nicht aufhörte?
24
Er erwachte mit Blutgeschmack im Mund. Er fühlte sich verkatert und betrunken zugleich, und sein Kopf schien über ihm zu schweben.
Er schlug die Augen auf. Mit der Zunge glitt er über die Zahnreihen im Oberkiefer. An der Stelle, an der ihn am Vortag der kranke Zahn gequält hatte, klaffte eine riesige Lücke. Nicht nur der kranke Zahn, sondern auch seine unmittelbaren Nachbarn fehlten. Der Blutgeschmack wurde intensiver, als er gegen das Zahnfleisch drückte.
Eine Weile lag er nur da. Bilder strömten durch seinen Kopf, zu wuchtig und zu fiebrig, um sie festzuhalten. Fragen kehrten wieder. Wann? Wie?
Er setzte sich auf. Es war Mittag. Das Kopfkissen war voll Blut. Die Kamera stand da, wo er sie vor dem Schlafengehen postiert hatte. Im Zimmer fiel ihm keinerlei Veränderung auf. Er befühlte seine Backe. Sie war geschwollen.
Als er in die Hose stieg, wäre er beinahe umgefallen. Er fragte sich, was mit ihm los war. Er fühlte sich wie nach einer Orgie.
Am Badewannenrand entdeckte er schlecht verwischte Blutstropfen. Der Mülleimer enthielt nichts, was nicht schon am Vortag dagewesen war. Auch in der Küche bemerkte Jonas nichts Ungewöhnliches. Weil ihn schwindelte, setzte er sich. Er versuchte sich zu sammeln. Überlegte, was mit ihm vorging. Kein Zweifel, er war vollkommen betrunken.
Er lud das Gewehr durch und ging auf die Straße. Der Mercedes parkte hinter dem Toyota, der Toyota hinter dem Lkw. Der Kilometerstand war an allen der gleiche wie am Abend zuvor.
Als er die Kassette zurückspulen wollte, stellte er fest, daß sie verschwunden war. Er suchte alles ab. Sie war weg.
Die Schachtel Diclofenac fand er im Apothekenkasten. Laut Beipackzettel sollte es entzündungshemmend und schmerzlindernd wirken. Mehr als drei am Tag waren nicht empfohlen. Er drückte zwei aus der Packung und spülte sie mit Leitungswasser hinunter. Gleich darauf nahm er ein Alka-Seltzer. Er war verkatert wie seit Jahren nicht. Er wechselte den Kopfkissenbezug und legte sich wieder ins Bett.
Zwei Stunden später begann die Wunde erneut zu schmerzen. Er schluckte zwei weitere Diclofenac. Danach wärmte er sich eine Konserve. Mehrmals stand er knapp davor, den Teller in den Hinterhof zu werfen. Er zwang sich, alles aufzuessen.
Nach dem letzten Bissen legte er die Hände vors Gesicht. Er mußte rülpsen. Er schwitzte und atmete schwer bei der Anstrengung, das Essen bei sich zu behalten. Einige Minuten verharrte er so. Dann ging es wieder.
Er zog eine der Karten aus der Tasche.
Raus , las er.
Die Scheuklappenbrille eng um den Kopf gespannt, fuhr er durch die Straßen. Während er den Anweisungen der Computerstimme folgte, bemühte er sich, seine Gedanken abzulenken, um nichts von seiner Route zu bemerken.
Plötzlich fragte er sich, ob er wach war. Er war sich nicht sicher, ob das, was er gerade dachte und fühlte, real war. War er tatsächlich hier? Dieses Lenkrad, dieses Gaspedal, dieser Schalthebel, waren sie Teil der Realität? Die Helligkeit, die er durch den Schlitz der Brille wahrnahm, war das die wirkliche Welt?
Ein schleifendes Geräusch erklang. Der Wagen rumpelte über den Bordstein. Jonas bremste, fuhr langsamer weiter. Er war drauf und dran, sich die Brille vom Kopf zu reißen. Er kämpfte den Impuls nieder.
»An der nächsten Kreuzung rechts.«
Ein Signal ertönte. Er lenkte nach rechts, gab wieder Gas.
Er hatte einmal gelesen, daß die Augen zunächst alles um 180 Grad verdreht sahen, das Bild der Welt sozusagen verkehrt herum an das Gehirn weitergaben. Weil das Gehirn jedoch wußte, daß Menschen nicht auf dem Kopf spazierten und Berge nicht von unten nach oben breiter wurden, drehte es das Bild um. Gewissermaßen betrogen die Augen, und der Verstand wirkte als Korrektiv. Ob das so stimmte oder nicht, jedenfalls traf es eine schwerwiegende Frage: Wie konnte er sicher sein, daß das, was seine Augen sahen, auch da war?
Eigentlich war er ein Klumpen Fleisch, der sich durch die Welt tastete. Was er über sie wußte, wußte er vor allem durch seine Augen. Durch sie konnte er sich orientieren, Entscheidungen treffen, vermied er Zusammenstöße. Aber nichts und niemand konnte ihm garantieren, daß sie die Wahrheit sagten. Farbenblindheit war
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