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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Kaugummi klebte daran. Beinahe hätte sich Jonas übergeben müssen. Er verstand nicht, warum.
    Er fuhr. Ohne zu merken, daß Zeit verging. Der vorbeiziehenden Landschaft schenkte er keine Beachtung. Wenn er an ein Hinweisschild kam, hob er den Kopf. Er überprüfte, ob er noch auf der richtigen Autobahn war, und sank wieder über dem Lenkrad zusammen. Er dachte an nichts. Seinen Geist beschäftigten Bilder, die ohne sein Zutun auf ihn einströmten und so schnell verschwanden, wie sie gekommen waren. Eindrücke hinterließen sie nicht. Er war leer. Ganz konzentriert darauf, nicht einzuschlafen.
    Es gelang ihm, London nördlich zu umfahren. Als er sicher war, die Stadt hinter sich zu haben, hielt er mitten auf der Autobahn an, klappte den Sitz zurück und schloß die Augen.
    Vier Uhr morgens. Er kurbelte das Fenster herunter. Die Luft war kühl und feucht. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft, nach verbranntem Horn oder geschmolzenem Gummi. Nur das Schaben seiner Fingernägel an der Türverkleidung unterbrach die Stille. Normalerweise hätte er um diese Zeit das Gezwitscher von Vögeln gehört.
    Als er losfahren wollte, bewegte sich der Wagen keinen Zentimeter. Es gab einen Ruck, und neben dem Fahrzeug sprühten gelbe und rote Funken auf. Zugleich ertönte ein schleifendes Geräusch.
    Er stieg aus. Mit der Taschenlampe leuchtete er die nahe Umgebung des Autos ab. Erst dann richtete er den Kegel auf die Räder.
    Alle vier Reifen waren abgezogen. Die Achse lag nackt auf dem Asphalt.
    Ein Stück hinter dem Wagen stieß er auf einen rauchenden Haufen, in dem er die Autoreifen erkannte. Ein halb geschmolzener Wagenheber ragte dazwischen hervor.
    Nirgends war ein anderes Auto zu sehen. Die nächste Raststation war weit. Wann die nächste Abfahrt kam, wußte er nicht. Er mußte wohl zurückmarschieren.
    Unschlüssig blickte er auf die übelriechende Feuerstelle, dann zum Auto. Er fühlte sich kraftlos. Es hatte viel Anstrengung erfordert hierherzugelangen, und es würde noch viel Mühe kosten, nach Smalltown und wieder nach Hause zu kommen. Dieser Zwischenfall zermürbte ihn.
    Die Hände in den Hosentaschen vergraben, ging er los, in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Als er von der Autobahn aus eine Landstraße und dahinter eine Ortschaft ausmachte, kletterte er den Hang hinab. Gegen sechs Uhr früh fand er ein Auto, an dem der Schlüssel steckte. Er überlegte, ob er irgendwo etwas essen sollte. Doch er wollte erst weiter nach Norden kommen. Die Nähe zu London behagte ihm nicht. Er war überzeugt, daß die Stadt menschenleer war und daß er sich in der riesigen Stadt nur verirren, aber nichts gewinnen konnte.
    Er fuhr nicht viel schneller als 120. Er wäre gern rascher vorangekommen, aber er wagte nicht, die Geschwindigkeit zu erhöhen. Vielleicht lag es an dem Zwischenfall mit den abgeschraubten Reifen, vielleicht war es eine Ahnung. Aber ihm war, als würde er sich unnötig in Gefahr begeben, wenn er zu fest aufs Gas stieg.
    Acht Uhr. Neun. Elf. Zwölf. Zwei Uhr nachmittags. Die Ortsnamen, die er auf Hinweisschildern las, kannte er vor allem aus seiner Kindheit, als er sich noch für Fußball interessiert und in den Zeitungen auch die Berichte über die englische Meisterschaft gelesen hatte. Luton. Northampton. Coventry. Birmingham. West Bromwich. Wolverhampton. Stoke. Namen, die leere Städte bezeichneten. Ihm gleichgültig. Er wollte auf den Schildern nur die Entfernung nach Schottland lesen. Smalltown lag direkt an der Grenze, keine fünf Kilometer davor.
    Liverpool.
    Schon in seiner Kindheit hatte ihn dieser Ort beschäftigt. Nicht so sehr, weil er den Fußballverein nicht mochte. Auch nicht, weil es die Stadt der Beatles war. Sondern weil der Name der Stadt einen so merkwürdigen Klang hatte. Es gab Wörter, die sich beim Betrachten oder beim bewußten Aussprechen zu verwandeln schienen. Es gab Wörter, deren Sinn zu weichen schien, wenn man sie ansah. Es gab tote Wörter und lebendige. Liverpool war lebendig. Li-ver-pool. Schön. Ein schönes Wort. Wie auch, zum Beispiel, das All , als Bezeichnung für das Universum verwendet. Das All. So klangvoll, so treffend. So schön.
    England, Schottland: Normale Worte. Deutsch-land. Ein normales Wort. Aber Italien. Italien, das war ein Wort mit Seele und Musik. Es hatte nichts mit seinen Sympathien für das Land zu tun, es war das Wort. Italien war das Land mit dem schönsten Namen, gefolgt von Peru, Chile, Iran, Afghanistan, Mexiko. Wenn man das Wort Irland las

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