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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Kopf vorübergehastet.
    Als alles bereit war, wollte er einschalten, doch er erinnerte sich, daß er noch nicht in der Kirche gewesen war. Der Stephansdom war eines der wenigen wichtigen Gebäude in der Innenstadt, die er noch nicht untersucht hatte, eine Gedankenlosigkeit. Denn wenn es noch Menschen in der Stadt gab, sprach einiges dafür, daß sie im größten Gotteshaus Zuflucht suchen würden.
    Er öffnete die schwere Tür einen Spalt und schlüpfte hinein. Das erste, was ihm auffiel, war der schwere Geruch von Weihrauch, der sich auf seine Brust legte.
    »Hallo? Jemand hier?«
    Unter dem riesigen Gewölbe des Doms entfaltete seine Stimme nur geringe Kraft. Er räusperte sich. Rief erneut. Die Mauern warfen den Klang zurück. Er blieb stehen, bis es wieder still war.
    Kerzen brannten nicht. Die Kirche war in das grobe Licht getaucht, das einzeln von der Decke herabhängende Lampen verströmten. Die zahlreichen Lüster waren nicht erleuchtet. Der Hauptaltar war kaum auszumachen.
    »Ist jemand hier?« schrie er.
    Das Echo war so schrill, daß er beschloß, nicht mehr zu rufen. Laut mit sich selbst sprechend, ging er umher.
    Nachdem er die Kirche durchsucht hatte und sicher sein konnte, keine Gesellschaft zu haben, widmete er seine Aufmerksamkeit dem Altar der Jungfrau Maria. In Not Geratene richteten ihre Fürbitten meist an sie. Hier steckten die meisten abgebrannten Kerzenstümpfe, hier hatte er früher Dutzende einander fremde Menschen Seite an Seite beten gesehen, Rosenkränze zwirbelnd, die Lippen auf Heiligenbilder pressend, weinend. Von diesem Anblick war ihm unwohl geworden. Er hatte sich kaum auszumalen gewagt, welche Schicksalsschläge die armen Leute hierhergeführt hatten.
    Vor allem die weinenden jungen Männer verstörten ihn. Frauen sah man auch in der Öffentlichkeit gelegentlich weinen. Der Anblick von Männern jedoch, die so alt waren wie er und die an einem Andachtsort vor aller Augen ihren Gefühlen freien Lauf ließen, erschütterte ihn. Ihn quälte es, ihnen nahe zu sein, und dennoch mußte er sich zusammennehmen, nicht zu einem von ihnen hinzutreten und ihm über den gesenkten Kopf zu streichen. War einer ihrer Lieben krank? Hatte jemand sie verlassen? War jemand gestorben? Waren womöglich sie selbst todgeweiht? Hier saß das Leiden, und ringsum schlichen japanische und italienische Touristen und blitzten mit ihren Fotoapparaten, so hatte er es empfunden.
    Er blickte auf die leeren Bänke vor dem unbeleuchteten Altar. Er hätte sich gern gesetzt, aber er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Als wartete jemand gerade darauf.
    Das Gewehr über der vom Gurt schmerzenden Schulter, schlich er durch das Kirchenschiff. Er betrachtete die Heiligenfiguren an den Wänden. Unwirklich sahen sie aus. Fahl und glanzlos. Mit ihren starren Fratzen erinnerten sie ihn an die Menschen von Pompeji.
    Aus der Schule wußte er, daß unter ihm die Gebeine von zwölftausend Menschen moderten. Im Mittelalter hatte hier der Stadtfriedhof Platz gefunden. Später waren die Gräber aufgelassen worden. Strafgefangenen war die Aufgabe zugekommen, die Knochen zu putzen und an den Wänden zu stapeln. Er erinnerte sich, daß es in der Klasse bei dieser Erzählung sehr ruhig geworden war.
    Er überwand eine Absperrung, um zum Hauptaltar zu gelangen, wo er eine Nachricht hinterließ. Eine weitere hängte er an den Altar der Muttergottes. Er kontrollierte die Sakristei. Er fand bloß ein paar leere Flaschen Meßwein. Nichts wies darauf hin, wann zuletzt jemand dagewesen war.
    Gegenüber der Sakristei befand sich der Abgang zu den Katakomben. Um drei Uhr werde die nächste Führung stattfinden, kündigte ein Stundenzeiger an, der auf einer Art Parkscheibe angebracht war. Als Voraussetzung wurde eine Mindestpersonenanzahl von fünf genannt.
    Sollte er hinuntersteigen? Der Gedanke lockte ihn nicht besonders. Außerdem fiel ihm mittlerweile das Atmen schwer, der Geruch von Weihrauch betäubte ihn.
    Am Ausgang blickte er sich noch einmal um. Wie eingefroren lag der Ort vor ihm. Derbes Licht aus kleinen Lampen, das auf verlassene Holzbänke strahlte. Die grauen Säulen. Die Nebenaltäre. Die Heiligenstatuen mit den unnahbaren Gesichtern. Die hohen, schmalen Fenster, durch die kaum Sonnenstrahlen drangen.
    Das Knirschen seiner Schuhsohlen als einziges Geräusch.
    Weitere Kameras stellte er vor dem Parlament auf, vor der Hofburg, im Burgtheater, auf der Reichsbrücke, in einer Straße im Bezirk Favoriten. Die Kamera im Burgtheater

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