Die Arbeit der Nacht
Widerstreben blickte er in den Rückspiegel. Da saß niemand. Er wandte den Kopf. Niemand war hinter ihm.
Das Unwetter brach los, kurz nachdem er die letzte im Freien stehende Kamera ins Auto gelegt hatte. Weil er nicht noch einmal fahren wollte, entschied er sich, trotz des Sturms auch die anderen gleich zu holen. Zuerst fuhr er zum Burgtheater, dann in die Hollandstraße. Dort machte er die Fenster zu, damit der Regen, der nahezu waagrecht gegen die Scheibe prasselte, in der Wohnung keinen Schaden anrichten konnte.
Zuletzt hielt er vor dem Millennium-Tower. Das Gewehr in den Händen, lief er über die Rolltreppe nach oben. Schon wollte er in den Lift steigen, da ertönte ein gewaltiges Krachen. Es mußte ganz in der Nähe eingeschlagen haben. Vor seiner Nase schloß sich die Lifttür. Er drückte den Rufknopf kein zweites Mal. Das Risiko, daß der Strom ausfiel und er in der Kabine zwischen dem zehnten und dem zwanzigsten Stock festsaß, war ihm zu hoch.
Im Nannini machte er sich einen Espresso. Mit der Tasse setzte er sich an einen der Tische vor der Tür. Rechts von ihm lag das zweistöckige Elektrogeschäft. Links sah er die Übergänge zu weiteren Einkaufszeilen. Direkt vor ihm führte die Rolltreppe nach unten, und dahinter ragte der Turm auf.
Jonas legte den Kopf in den Nacken, um zur Spitze hinaufzublicken. Sie war kaum zu sehen, alles war verschwommen. Knisternd spielte der Regen auf dem Glasdach, das das ganze Einkaufszentrum bedeckte.
Mit Marie hatte er oft an einem dieser Tische gesessen. Obwohl die Läden der Millennium-City nicht die vornehmste Kundschaft anzogen, hatten sie hier gern eingekauft.
Er lief ins Café. Vom Telefon hinter der Theke rief er bei Maries Verwandten in England an. Nichts als das fremde Läuten war zu vernehmen.
Wenn sich wenigstens die Mailbox ihres Handys einschaltete. Er könnte ihre Stimme hören. Aber es gab nur Läuten, Läuten.
Nachdem er die dritte Audiokassette abgespielt hatte, war er so müde, daß er sich zur Erfrischung unter die kalte Dusche stellte. Auf keinem der Bänder hatte er etwas gefunden. Dennoch wollte er nicht ins Bett gehen, er war zu neugierig. Er konnte ja am nächsten Tag ausschlafen.
Längst lag die Stadt im Dunkeln. Das Gewitter hatte geendet, bald war auch der Regen weitergezogen. Jonas hatte die Jalousien heruntergelassen. Auf dem Fernsehschirm tanzten stumm die jungen Berliner.
Er bereitete sich einen Imbiß. Ehe er sich mit dem Teller wieder auf die Couch setzte, streckte er sich und kreiste mit den Schultern. Ein stechender Schmerz zuckte vom Rücken bis in seinen Kopf. Sehnsuchtsvoll dachte er an Frau Lindsay.
Kurz nach ein Uhr früh legte er Kassette Nummer fünf ein. Die sechste folgte eine Stunde später. 3.11 Uhr zeigte der Radiowecker an, als Jonas zum siebentenmal die Playtaste drückte.
Nachdem er sich diese Kassette angehört hatte, befand er sich im Zustand schwerer Überreizung. Bei der sechsten Kassette war er dazu übergegangen, im Wohnzimmer herumzuspazieren und gymnastische Übungen zu machen. Ständig die Ohren zu spitzen und dennoch nichts zu hören war zermürbend. Er wurde das Gefühl nicht los, eine Flüssigkeit sickere aus seinem Gehörgang. Alle paar Minuten faßte er sich ans Ohr und kontrollierte darauf, ob Blut an seinen Fingern klebte.
Mehr automatisch als bewußt legte er die Kassette ein, die seinen Schlaf aufgezeichnet hatte.
Er ging zum Fenster. Mit zwei Fingern drückte er die Lamellen der Jalousien auseinander. Vereinzelt waren Fenster erleuchtet. Jenes dort drüben kannte er, es gehörte zu jener Wohnung, die er besucht hatte.
Ob in diesem Moment dort drüben alles an seinem Platz war?
Um halb fünf Uhr früh hörte er auf der Kassette Geräusche.
7
Zwei Stunden arbeitete er, bis er das Gurgeln und Brummen seines Magens nicht mehr ignorieren konnte. Er aß und arbeitete weiter. Er dachte nicht viel nach.
Am Abend stank er nach Schweiß und ärgerte sich über einen langen Riß in seiner Hose. Dafür erinnerte in Wohn- und Kinderzimmer nichts mehr an Familie Kästner. In der Küche hingegen hatte er nichts angerührt.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ging er langsam durch die Wohnung. Ab und zu nickte er. In diesem Zustand hatte er sein altes Heim nie gesehen.
Zu Hause knurrte sein Magen wieder. Er aß Tiefkühlfisch. Damit waren seine Vorräte zu Ende.
Nach einem ausgedehnten Bad rieb er sich die rechte Schulter mit Creme ein. Durch die Last des Gewehrs hatte er die Haut
Weitere Kostenlose Bücher