Die Arbeit der Nacht
Mauern ragten. Phantasiefiguren, Musikanten. Zwerge. Fratzen. Und am Stephansdom Heilige. Alle schauten über ihn hinweg. Alle waren stumm.
Er hatte den Eindruck, daß ihre Zahl wuchs. Als seien an jenem Tag, an dem er hier das Video aufgenommen hatte, weniger Statuen zu sehen gewesen. Es schien, daß in der ganzen Stadt allmählich mehr und mehr Statuen aus den Hausmauern krochen.
In den Elektronikläden der Innenstadt, die nicht so zahlreich waren, wie er vermutet hatte, sammelte er acht Kameras von seinem bevorzugten Modell. Auch fünf Stative konnte er in den Wagen laden. Über den Burgring fuhr er in die Mariahilfer Straße. Vor jedem Elektronikgeschäft hielt er. Danach suchte er am Neubaugürtel.
Er fühlte sich matt. Mehr als einmal zweifelte er am Sinn des Unternehmens, erwog zumindest, den Beutezug auf einen geeigneteren Tag zu verschieben. Seine Nase lief, der Hals kratzte, der Kopf fühlte sich dumpf an. Aber er war nicht so krank, daß er sich ins Bett legen durfte. Überdies hatte er das Gefühl, er sollte besser keine Zeit vergeuden. Auch wenn es widersinnig erschien. Er hatte alle Zeit der Welt. Nichts mußte wirklich getan werden. Und doch fühlte er Unrast. Seit er vom Mondsee abgefahren war, noch stärker als früher.
Am Nachmittag war das Auto so beladen, daß er im Rückspiegel nur Schachteln sah. Es waren zwanzig Kameras und sechsundzwanzig Stative. Mit jenen zu Hause ergab dies knapp dreißig einsatzbereite Aufnahmegeräte. Das genügte.
Oberflächlich kontrollierte er, ob in der Wohnung alles in Ordnung war. Die Arbeitshandschuhe streifte er nicht über. Mit Taschenlampe und Gewehr ging er in den Keller. Auch hier machte er keine Veränderungen aus.
Aufs Geratewohl faßte er in eine Schachtel. Er hatte Fotos erwartet, doch seine Finger griffen in etwas Flauschiges. Erschrocken zuckte er zurück. Mit der Lampe leuchtete er in das Innere der Schachtel. Es war ein Plüschtier. Er hatte es nie zuvor gesehen. Ein dunkelgrüner Bär, dem das linke Auge fehlte und dessen rechtes Ohr angeknabbert war. Er war schmutzig. Aus seinem Hinterteil ragte eine Schnur. Jonas zog daran. Eine Melodie erklang.
Er erschauerte. Die Töne drangen ihm durch und durch. Starr lauschte er den Klängen. Ding-dang-dong, ein helles Glöckchen läutete ein weiches Motiv. Dann war es zu Ende, und automatisch zogen seine Finger erneut an der Schnur.
Aus dem Nichts traf ihn die Erkenntnis, daß es seine Spieluhr gewesen war. Von dieser Melodie war er als Baby in den Schlaf begleitet worden. Nun erinnerte er sich auch, um welches Lied es sich handelte. Als Säugling hatte er es jeden Abend gehört. Er wußte nichts davon, doch einem Teil von ihm war diese Melodie so vertraut wie weniges.
La-le-lu, nur der Mann im Mond schaut zu .
Plötzlich war das Fieber da.
Es kam in Sekundenschnelle. Er fühlte Schwindel. Er griff sich an die Stirn und merkte zugleich, wie sich Wellen von Hitze durch ihn bewegten. Jeden Moment würden ihn seine Beine im Stich lassen. Es war ernst. Er würde es nicht mehr nach Hause schaffen. Es war schon ein Erfolg, wenn es ihm gelang, den Keller zu verlassen.
Mit einer schier endlosen Bewegung steckte er sich die Spieluhr unter das T-Shirt. Am Rande wurde ihm bewußt, in welcher Gefahr er durch diese Bewegung schwebte. Er konzentrierte sich darauf, nicht nachzulassen, die Bewegung weiterzuführen, das Tosen nicht zu beachten, das in der Ferne anschwoll.
Er klemmte das T-Shirt in der Hose fest und drehte sich um. Sich auf das Gewehr stützend, die Lampe am Handgelenk baumeln lassend, tappte er Schritt für Schritt Richtung Ausgang. Die heißen Wellen in ihm gewannen an Wucht. Er atmete durch den Mund. Nach zwei Metern blieb er stehen, um zu verschnaufen.
Irgendwie gelangte er zum Treppenaufgang. Auf der zweiten Stufe knickten seine Beine ein. Er stützte sich mit den Händen ab und ging nieder. Ohne sich um Schmutz und Spinnweben zu kümmern, lehnte er den Kopf gegen die Wand. Sie war angenehm kühl.
Das Treppenlicht erlosch. Nur durch ein kleines Gangfenster im Halbstock gelangten einige matte Sonnenstrahlen ins Treppenhaus. Es dauerte eine Weile, bis es ihm glückte, die Lampe an seinem Handgelenk anzuknipsen. Ein greller Lichtfleck zitterte über den steinernen Boden.
Er fühlte sich eine Spur besser. Er zwang sich aufzustehen. Ihm drehte sich alles. Sein Herz rumpelte.
Stufe für Stufe zog er sich am Geländer aufwärts. Dabei versuchte er die panische Stimme in sich zu beschwichtigen. Er
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