Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
würde nicht sterben. Es ergab keinen Sinn. Mit einem Infarkt im Treppenhaus umzukippen, es würde nicht geschehen.
    Während er auf die Wohnung zuhumpelte, gab er sich Mühe, das immer wiederkehrende kurze Aussetzen seines Herzschlages zu ignorieren. Er dachte an gar nichts mehr. Er setzte einen Fuß vor den anderen, atmete ein, atmete aus. Rastete. Ging weiter.
    Wasser, dachte er, nachdem er die Tür hinter sich verriegelt hatte. Er mußte trinken.
    In seiner Hosentasche fand er ein Aspirin. Die Verpakkung war schmutzig und zerknittert. Aus der Apotheke in der Himmelpfortgasse stammte es nicht, er trug es wohl schon länger mit sich herum. Die übrigen Medikamente waren im Auto. Genausogut hätten sie auf einem anderen Kontinent sein können.
    Er löste das Aspirin in Wasser auf. Trank.
    Er fand zwei leere Limonadeflaschen. Er spülte sie aus, befüllte sie mit Wasser und machte sich damit auf den langen Weg ins Schlafzimmer. Das Gewehr ließ er im Vorraum liegen. Es war zu schwer.
    Kein Ticken der Wanduhr empfing ihn, sie war bereits eingepackt. An den Stellen, an denen die Regale gestanden hatten, schimmerte die Tapete hell. Das Bett war abgezogen. Die Decken schützten in Schachteln, die draußen im Lkw standen, das Geschirr. Es mußte ohne Überwurf gehen, es war ja Sommer.
    Er legte sich auf die Matratze. Fast im selben Moment kam der Schüttelfrost. Ihm wurde klar, daß er einen Fehler gemacht hatte. Anstatt sich in die Wohnung zu quälen, hätte er sich ins Auto setzen und die Heizung andrehen sollen.
    Er zitterte sich in einen Dämmerschlaf, von dem er nicht wußte, ob er zehn Minuten dauerte oder drei Stunden. Als er daraus auftauchte, klapperten seine Zähne wild aufeinander. Sein Arm zuckte unkontrolliert, fuhr gegen die Wand. Jonas riß die zweite Matratze aus dem Bettgestell und legte sie auf sich.
    Wieder ging es abwärts. Sein Geist mußte Muster zeichnen und Linien ziehen. Vor ihm tauchten geometrische Figuren auf. Vierecke. Sechsecke. Zwölfecke. Ihn quälte die Aufgabe, darin gerade Linien zu zeichnen, allerdings nicht mit einem Stift, sondern mit einem Blick, der sogleich Spuren hinterließ. Des weiteren hatte er den entscheidenden Punkt eines Spannungsfeldes zu entdecken, der einerseits die geometrische Figur zusammenhielt, andererseits unberührbar war, weil er durch Magnetismus beeinflußt wurde. Magnetismus schien die stärkste Kraft auf Erden zu sein. Ständig präsentierten sich ihm neue Figuren, gnadenlos flogen sie einher, und überall hatte er Linien zu ziehen und Punkte zu finden. Zu allem Überfluß verschmolzen beide Tätigkeiten mehr und mehr zu einer, ohne daß er begreifen konnte, wie dies vor sich ging.
    Die Nachttischlampe brannte. Draußen war es dunkel. Er trank einen Schluck Wasser. Es schmerzte, er mußte sich zwingen. Er trank die Flasche halb leer. Sank zurück.
    Der Schüttelfrost hatte nachgelassen. Er griff sich an die Stirn. Das Fieber war sehr hoch. Er wälzte sich auf den Bauch. In der Matratze wohnte der Geruch seines Vaters.
    Nicht mehr mit Sechsecken und Zwölfecken hatte er es zu tun, sondern mit Formen, die sein Begriffsvermögen überstiegen. Er wußte, daß er träumte, aber er fand den Ausgang nicht. Er blieb gezwungen, Linien zu ziehen und den zentralen Magnetpunkt zu suchen. Form um Form kam zu ihm. Er zog Gerade um Gerade, erkannte Punkt um Punkt. Er wachte auf, gerade nur lang genug, um sich auf die andere Seite zu drehen. Er sah die Formen auf sich eindringen, doch abzuwehren vermochte er sie nicht. Sie waren da. Sie waren überall. Hier war die nächste, und die übernächste lauerte.
    Um Mitternacht trank er die Flasche aus. Er war sich sicher, kurz vorher Geräusche aus dem Wohnzimmer gehört zu haben. Das Rollen von Eisenkugeln. Eine Tür, die ins Schloß fiel. Ein Tisch, den jemand verrückte. Frau Bender kam ihm in den Sinn. Ihm fiel ein, daß sie nie in dieser Wohnung gewesen war. Gern wäre er aufgestanden, um nachzuschauen.
    Er fror. Es roch übel, und er fror schrecklich. Er hörte eine Stimme. Er öffnete ein Auge. Es herrschte fast vollständige Dunkelheit. Durch ein winziges Fenster drang ein Lichtschein, dessen Stärke verriet, daß draußen der Morgen dämmerte. Das Auge klappte wieder zu.
    Den Geruch kannte er.
    Er rieb sich die Arme. Alles tat ihm weh. Er hatte das Gefühl, auf Steinen zu liegen. Wieder hörte er eine Stimme und sogar Schritte, ganz nahe. Er öffnete die Augen. Langsam gewöhnten sie sich an die Dunkelheit. Er sah einen

Weitere Kostenlose Bücher