Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
Kinderreime vorsagte, die ihm in Erinnerung geblieben waren. Bald genügte ihm Deklamieren nicht mehr, und er begann zu singen und zu brüllen. Oft erstickte Schüttelfrost den Ton in seiner Kehle, und er gab ein Krächzen von sich. Rhythmisch hüpfte er auf dem Sattel auf und nieder. Er fühlte sich fiebrig.
    Auf diese Weise gelangte er nach Attnang-Puchheim. Er stürzte ins erstbeste Haus. Alle Wohnungen waren abgeschlossen. Er versuchte es an einem Einfamilienhaus. Auch hier hatte er kein Glück. Triefnaß stemmte er sich gegen die versperrte Tür. Sie war aus massivem Holz und das Schloß neu.
    Obwohl die Fenster recht hoch lagen, hob er den Lauf des Gewehrs, um die Scheiben zu zerschießen. In diesem Moment entdeckte er auf der anderen Straßenseite ein kleines Haus ohne Fenster. Er lief hin, ohne sich um die Pfützen zu kümmern. Auf der Hinterseite befand sich die Eingangstür.
    Er drückte die Klinke. Es war offen. Er murmelte einen Dank.
    Ohne nach links und rechts zu schauen, lief er ins Bad. Er ließ heißes Wasser in die Wanne ein. Dann riß er sich die Kleider vom Leib. Sie waren so vollgesogen, daß sie mit einem lauten Klatschen auf den Bodenfliesen landeten. Er wickelte sich in ein Badetuch. Er hoffte, daß es hier Männerkleidung gab.
    Ein düsteres Haus. Nur an der Nordseite blickten Fenster in einen mit Unkraut überwucherten Garten. Er drückte alle Lichtschalter, an denen er vorbeikam. Viele funktionierten nicht.
    Während aus dem Badezimmer das Rauschen des Wassers drang, stellte er auf der Suche nach Teebeuteln die Küche auf den Kopf. Er durchwühlte sämtliche Schränke, entleerte die Schubladen auf den Boden, doch er stieß nur auf Unbrauchbares wie Zimt, Vanillepulver, Kakao, Mandelsplitter. Das größte Regal war bis in den hintersten Winkel mit Kuchenformen gefüllt. Die Bewohner schienen sich ausschließlich von Backwerk ernährt zu haben.
    In einem Regal, das seiner Aufmerksamkeit zunächst entgangen war, fand er eine Packung Suppenwürfel. Tee hätte er vorgezogen. Er stellte Wasser auf, und als es sprudelte, brockte er fünf Würfel in den Topf.
    Auf dem Badewasser erwartete ihn ein Schaumberg. Er drehte den Hahn zu. Den Topf mit der Suppe stellte er auf einen befeuchteten Putzlappen am Wannenrand. Er warf das Badetuch ab und legte sich ins Wasser. Es war so heiß, daß er die Zähne zusammenbiß.
    Er blickte zur Decke.
    Ringsum knisterte der Schaum.
    Er beugte die Knie, rutschte mit dem Kopf unter Wasser. Er rubbelte sich einige Male durchs Haar, tauchte wieder auf. Sofort öffnete er die Augen, hielt nach allen Seiten Ausschau. Er machte die Ohren frei und lauschte. Keine Veränderung. Er legte sich zurück.
    Als Kind hatte er es geliebt zu baden. In der Hollandstraße gab es keine Wanne, und so kam er nur bei Tante Lena und Onkel Reinhard zu diesem Genuß. Von draußen drangen die Geräusche, die die Tante beim Geschirrabräumen machte, und er saß in einer strahlendweißen Badewanne und roch an den vielen Seifen und Aromakugeln. Alles war ihm vertraut, selbst die aufgeweichten Etiketten der Shampooflaschen erkannte er von Mal zu Mal wieder und betrachtete sie als Freunde. Am meisten jedoch beglückte ihn der Schaum. Die Millionen kleiner Bläschen, die in Millionen Farben zu glitzern schienen. Es war das Schönste, was er im Leben gesehen hatte. Er erinnerte sich noch gut, wie er sich kaum um die Plastikenten und Schiffchen gekümmert, sondern verträumt in den Schaum gestarrt hatte, von einem rätselhaften Wunsch erfüllt: So, dachte er, möge das Christkind aussehen.
    Hier hatte ein kleiner dicker Mann gelebt.
    Im Spiegelschrank, dem er Hemd und Hose entnommen hatte, betrachtete sich Jonas in den Sonntagskleidern des Hausbesitzers. Die Hose schlotterte ihm um die Hüften, dafür endete sie eine Handbreit über den Knöcheln. Nirgends fand sich ein Gürtel. Er schnallte die Hose mit schwarzem Klebeband an den Hüften fest. Sie kratzte. Das Hemd nicht minder. Überdies roch beides nach alten Zweigen.
    Im matt beleuchteten Vorzimmer wandelte er die Bildergalerie entlang, der er zuvor kein Augenmerk geschenkt hatte. Keines der Bilder war größer als ein Schulheft. Die kleinsten hatten die Größe einer Postkarte. Unter den unpassend wuchtigen Holzrahmen stand mit Stift etwas auf die Tapete gekritzelt, offenbar der jeweilige Titel. Wie die Motive waren sie nicht gleich verständlich. Ein dunkler Klumpen hieß Leber . Eine Doppelröhre aus unbekanntem Material Lunge . Zwei gekreuzte

Weitere Kostenlose Bücher