Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
vielleicht erfahren. Andererseits war er sich nicht sicher, ob er sich darauf freuen sollte. Er legte die Kassette, die er schon aus der Schlafzimmerkamera genommen hatte, beiseite.
    Er bestrich ein Vollkornbrot mit Leberpastete. Es schmeckte ihm nicht, doch er fühlte, wie nötig sein Körper die Energiezufuhr hatte. Er machte sich noch eines, danach aß er einen Apfel. Er tropfte Echinacin in ein Glas Wasser und spülte mit Vitaminsaft nach.
    Er betrachtete die Spieluhr, die er neben das Telefon gelegt hatte. An dieses halbe Gesicht, diesen einäugigen und einohrigen Bären konnte er sich nicht erinnern. Wohl aber an die Töne.
    Er zog an der Schnur. Die Melodie erklang. Es war, als berühre er etwas, das nicht mehr da war. Als sehe er einen Himmelskörper, der längst erloschen war, doch dessen Licht jetzt bei ihm ankam.
    Er verbrachte einige Stunden mit einem Computerspiel, das er nur unterbrach, um die Wäsche aufzuhängen. Am Abend fühlte er sich weniger angeschlagen als am Morgen, doch er war müde. Er putzte sich die Nase, gurgelte mit Kamillentee, nahm ein Aspirin.
    Die Akkus waren aufgeladen. Er sammelte sie ein. Auf der Couch steckte er die Geräte zusammen. Er drückte den Akku in die Halterung, schob eine Kassette ins Deck, dann schraubte er die Kamera auf ein Stativ. Wenn er zwei vorbereitet hatte, trug er sie hinüber in die leere Nachbarwohnung. Er klappte die Stative auf und stellte sie nebeneinander ab.
    Als er fertig war, betrachtete er im geräumigen Wohnzimmer die Kameras, die im Halbkreis vor ihm standen. Die meisten Objektive waren auf ihn gerichtet. Es waren unwirklich viele. Er hatte das Gefühl, sie umdrängten ihn wie außerirdische Zwerge, die gefüttert werden wollten.
    Der Schläfer wälzte sich wie üblich von einer Seite zur anderen. Zuweilen erklang Schnarchen.
    Jonas überlegte, wie er wach bleiben konnte. Es war beinahe Mitternacht. Er steckte sich das Fieberthermometer in die Achselhöhle.
    Womit sollte er den kommenden Tag verbringen? Um Möbel im Lastwagen zu verstauen, war er noch zu schwach. Er würde geeignete Wohnungen suchen, in denen die Kameras aufgestellt werden konnten. Er würde sich an Häuser mit Lift halten.
    Der Schläfer warf die Decke ab.
    Jonas beugte sich vor. Ohne den Blick vom Schirm abzuwenden, tastete er nach der Teetasse. Das Thermometer piepste. Er kümmerte sich nicht darum. Er verstand nicht, was er sah.
    Der Schläfer trug eine Kapuze.
    Zuvor hatte Jonas nicht genau hingesehen. Nun bemerkte er, daß der Kopf des Schläfers mit einer schwarzen Kapuze bedeckt war. Winzige Löcher für Augen, Nase und Mund waren hineingeschnitten.
    Der Schläfer setzte sich aufrecht auf die Bettkante. Die Arme an den Seiten aufs Bett gestemmt, saß er bewegungslos da. Er schien in die Kamera zu blicken. Das Licht war nicht hell genug, um die Augen inmitten des schwarzen Stoffs zu erkennen.
    Er saß da. Starr.
    Auf eine wortlose, ungeheure Weise lag Hohn und Herausforderung in seiner Haltung. Er saß herausfordernd da.
    Mit seinem schwarzen Kopf.
    Jonas konnte nicht lange in diese Maske schauen. Er meinte in ein Loch zu blicken, seine Augen ertrugen die Leere nicht, er wandte sich ab.
    Sah wieder hin. Starre. Ein schwarzer Kopf. Lochgesicht.
    Er ging ins Bad, putzte sich die Zähne. Ging auf und ab. Summte. Kehrte zum Fernseher zurück.
    Schwarzer Kopf, unbewegter Körper.
    Er saß da wie ein Toter.
    Langsam, wie in Zeitlupe hob der Schläfer den rechten Arm. Er streckte den Zeigefinger aus. Reckte ihn in Richtung Kamera.
    Verharrte.

14
    Gab es wirklich keine Möglichkeit, nach England zu gelangen?
    Es war das erste, was ihm nach dem Erwachen durch den Kopf ging. War es möglich? Vom Festland aus die britische Insel zu erreichen?
    Vor ihm nahmen Bilder Gestalt an. Motorboote. Segelschiffe. Yachten. Hubschrauber. Mit ihm darin.
    Er setzte sich im Bett auf. Hastig blickte er sich um. Die Kamera stand an ihrem Platz. Sie hatte offenbar aufgenommen. Im Raum waren keine Veränderungen zu bemerken. Er ging zum Spiegel, zog das T-Shirt hoch, drehte sich nach rechts und links. Um den Rücken zu betrachten, verrenkte er sich beinahe die Schulter. Auch die Fußsohlen kontrollierte er. Er reckte das Kinn und zeigte die Zunge.
    Ehe er Frühstück machte, erforschte er auf der Suche nach Überraschungen die gesamte Wohnung. Auf Verdächtiges stieß er nicht.
    Er fühlte sich frischer als am Vortag. Die Nase war nicht mehr verstopft, der Hals brannte nicht, und der Husten hatte sich

Weitere Kostenlose Bücher