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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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hielt derartiges grundsätzlich für Humbug. Obwohl er zugeben mußte, daß die Ergebnisse bemerkenswert waren. Wirkte er unwillkürlich auf das Pendel ein? Seine Mutter war tot, sein Vater indes verschwunden, er wußte dies. So durfte er nicht ausschließen, daß sein Unterbewußtsein an der Kette mitzog.
    Er öffnete den Verschluß, fädelte den Ring ein und hielt den Arm über das erste Foto, das ihm unterkam. Es zeigte ihn selbst, einen viel zu großen Tennisschläger hinter sich durch das Gras schleifend.
    Der Ring stand starr.
    Begann zu schwingen.
    Begann zu kreisen.
    Jonas stieß eine Verwünschung aus und rieb sich den Arm. Er wiederholte den Versuch. Mit demselben Resultat.
    Er fand ein Bild seiner Mutter. Über ihr kreiste auch diesmal der Ring. Dafür begann er nach einer längeren Ruhephase über dem Foto seines Vaters zu schwingen. Über Leonhard kreiste er, über Ingo schwang er leise hin und her, über dem namenlosen Jungen stand er still. Als Jonas ein weiteres Mal den Ring über ein Bild von sich hielt, verharrte dieser bewegungslos über dem Karton mit den umgeknickten Ecken.
    Er erhielt inkonsistente Ergebnisse.
    Er erhielt jene Ergebnisse, die er sich vor den ersten Versuchen im Keller von derartiger Gaukelei erwartet hatte. Er sollte sich freuen. Ihm war soeben vor Augen geführt worden, wie wenig sein Erlebnis in der Rüdigergasse aussagte. Doch er war nur noch mehr verwirrt.
    Er stürzte ins Schlafzimmer. Unter dem Schrank zog er die Schuhschachtel hervor, in der Marie ihre Fotos aufbewahrte. Dies waren nun moderne Bilder, mit einer Spiegelreflexkamera aufgenommen, die ältesten vier Jahre alt. Die meisten zeigten ihn. Im Sommer mit Badehose und Taucherflossen, in der kalten Jahreszeit mit Anorak, Mütze und Stiefeln. Er schob sie zur Seite.
    Fotos, auf denen er mit Marie zu sehen war. Sie waren aus zu großer Entfernung aufgenommen. Er legte sie beiseite.
    Ihm fiel ein großformatiges Foto von Marie in die Hände, das ihr Gesicht zeigte. Die Aufnahme kannte er nicht.
    Der Atem stand ihm still. Er sah sie zum erstenmal, seit sie ihm am Morgen des 3. Juli einen Kuß auf den Mund gedrückt hatte und stolpernd zur Tür hinausgelaufen war, weil das Taxi bereits wartete. Seit damals hatte er oft an sie gedacht. Sich ihre Züge ausgemalt. Aber gesehen hatte er sie nie.
    Sie lächelte ihn an. Er schaute in ihre blauen Augen, die ihn halb spöttisch, halb liebevoll musterten. Ihr Ausdruck schien zu sagen: Mach dir keine Sorgen, alles kommt wieder ins Lot.
    So war sie gewesen, so hatte er sie erlebt, so hatte er sich beim Geburtstagsfest eines Bekannten in sie verliebt. Dieser Blick, das war sie. So optimistisch. Fordernd, gewinnend, klug. Und mutig. Mach dir. Keine Sorgen. Alles ist. Gut.
    Ihr Haar.
    Er erinnerte sich, wie er das letztemal über ihren Kopf gestrichen hatte. Er malte sich das Gefühl aus, sie zu berühren. Sie an sich zu ziehen. Das Kinn auf ihren Scheitel zu legen, ihren Duft aufzunehmen. Ihren Körper zu spüren.
    Ihre Stimme zu hören.
    Er sah sie vor sich, wie sie sich im Bad frisierte, ein Frotteetuch um den Körper geschlungen, und über die Schulter zu ihm nach hinten die Neuigkeiten von ihrer Arbeit berichtete. Wie sie am Herd stand und ihre katalonischen Zucchini zubereitete, die immer ein bißchen überwürzt waren. Wie sie an der Stereoanlage über die in die falschen Hüllen eingeordneten CDs schimpfte. Wie sie abends auf der Couch ihre heiße Honigmilch schlürfte und Kommentare zum Geschehen im Fernsehen abgab. Und wie sie dalag, wenn er zwei Stunden nach ihr ins Schlafzimmer tappte. Mit dem Buch neben sich, das ihr aus der Hand gerutscht war. Den Arm quer über dem Gesicht, weil die Nachttischlampe sie blendete.
    All das hatte er jahrelang als Selbstverständlichkeit erlebt. Es war der Lauf der Dinge. Marie war an seiner Seite. Er konnte sie hören, riechen, spüren. Und wenn sie weg war, kam sie ein paar Tage später zurück und lag wieder neben ihm. Es war das Normalste der Welt.
    Nichts mehr von alldem erlebte er nun. Er fand nur ab und zu einen ihrer Strümpfe. Oder ihm glitt eine Flasche Nagellack in die Hände, oder er stieß im Wäschekorb auf eine ihrer Blusen, die sich ganz unten versteckt hielt.
    Er ging in die Küche. Stellte sich vor, wie sie hier gestanden hatte. Wie sie mit ihren Töpfen hantiert hatte. Und wie sie dabei Weißwein getrunken hatte.
    Mach dir keine Sorgen.
    Alles ist gut.
    Er ließ sich auf dem Boden vor der Couch nieder. Das Foto legte er

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