Die Arbeit der Nacht
musterte die winzigen Hände. Er hielt sich die rechte Hand vor das Gesicht, sah die rechte Hand auf dem Bild an.
Es war dieselbe Hand.
Die Hand, die er auf dem Foto sah, würde mit Bleistift, dann mit Füllfeder zu schreiben lernen. Die Hand vor seinem Gesicht hatte vor knapp dreißig Jahren erst mit Bleistift, dann mit Füllfeder zu schreiben gelernt. Die Hand auf dem Foto würde in Kanzelstein die streunenden Katzen der Nachbarin streicheln, den Spazierstock des alten Schnitzkünstlers in Empfang nehmen, Spielkarten halten. Die Hand vor seinem Gesicht hatte einst die Katzen in Kanzelstein gestreichelt, den Spazierstock in Empfang genommen, Karten gehalten. Die kleine Hand auf dem Foto würde einmal mit Zirkel und Lineal auf Papierbögen Wohnungseinrichtungen planen, an einer Computertastatur tippen, jemandem Feuer geben. Die Hand vor seinem Gesicht hatte Verträge bekräftigt, Schachfiguren gezogen, mit einem Messer Zwiebel geschnitten.
Die Hand auf dem Foto würde wachsen, wachsen, wachsen.
Die Hand vor seinem Gesicht war gewachsen.
Er strampelte die Decke von den Füßen und ging zum Fenster. Die Straßenbeleuchtung brannte nicht. Er mußte Stirn und Nase gegen die Scheibe pressen, um draußen Umrisse erkennen zu können.
Auf der Straße parkte der Spider, davor der Lastwagen. Die Heckklappe stand offen. Nach Regen hatte es nicht ausgesehen.
Auf Zehenspitzen lief er zurück zum Bett. Der Teppich unter seinen nackten Füßen war rauh.
15
Er schrak hoch, blickte um sich und gewahrte zu seiner Erleichterung, daß nicht alles rot war.
Sich mit den Füßen von der verschlissenen Decke befreiend, sank er zurück auf die Matratze. Er starrte auf die Mauer gegenüber. Ein weißes Rechteck bezeichnete den Platz, wo er ein Aquarell abgenommen hatte. Er zwinkerte. Rieb sich die Augen. Noch einmal ließ er den Blick schweifen. Alle Farben waren normal.
An Details des Traums konnte er sich nicht erinnern. Nur daran, daß er durch ein weitläufiges Gebäude marschiert war, in dem alles, sowohl Wände und Böden als auch Gegenstände, in schwerem Rot erstrahlte. Die verschiedenen Rottöne unterschieden sich nur in Nuancen. Auf diese Weise hatte es den Anschein, als verflüssigten sich die Dinge, gingen ineinander über. Er war durch dieses Gebäude gelaufen, in dem kein Geräusch ertönte, und war auf nichts gestoßen als auf Farbe, rote Farbe, die sich sogar der Form aufzwang.
Die Matratzen warf er aus dem Fenster. Gegen erheblichen Widerstand riß er den ersten Lattenrost aus dem Bettgestell. Beim zweiten war es weniger schwierig. Auf dem Schlitten rollte er beide hinaus auf die Straße und verstaute sie neben den Matratzen auf der Ladefläche. Er nahm die Säge, die er im Baumarkt besorgt hatte, und machte sich über das Bettgestell her. Er benötigte fast eine Stunde, aber dann hatte er es geschafft. Er stellte die Betteile auf den Schlitten und rollte ihn nach draußen. Er verstaute alles im Lkw.
Ein letztes Mal durchforschte er die Wohnung. Die Küchenkästen waren fremd, hatten nicht zur Elternwohnung gehört, sie blieben, wo sie waren. Ebenso wie der Herd, der Kühlschrank, die Sitzbank. Was an altem Besitz dagewesen war, hatte er ausgeräumt. Als letztes nahm er nun die Fotoschachtel, er stellte sie in den Kofferraum des Spider.
Er setzte sich auf die Ladefläche des Pickup. Er schaute zum Himmel hoch. Er erlebte ein Déjà-vu. Ihm war, als seien die wenigen offenstehenden Fenster gerade erst geöffnet worden. Die steinernen Figuren, die aus den Mauern ragten, schienen ihn zu beobachten. Besonders eine Gestalt im Kettenhemd, die ein Schwert schwang und sich mit einem Schild deckte, der als Wappentier einen Fisch hatte, musterte ihn höhnisch. Und all das hatte er schon einmal erlebt.
Kurz darauf war wieder alles normal. Die Fenster standen schon lange offen. Die Statuen waren Statuen. Der Schwertmann blickte gleichgültig.
Jonas schnellte herum.
Er stellte sich auf das Dach des Pickup. Er ließ den Blick durch die Straße schweifen. Binnen vier Wochen hatte sich nichts verändert. Nicht die kleinste Einzelheit. Noch immer wehte das Stück Plastik auf dem Fahrradsattel bei jeder Brise. Noch immer ragte die Flasche aus dem Abfalleimer. Noch immer standen die Zweiräder an ihrem Platz.
Er fuhr nochmals herum.
Aus der Fahrerkabine des Lkws holte er Papier und Klebestreifen sowie seinen Plakatschreiber, von dem er nicht wußte, wie er dorthin gelangt war. Er klebte einen Zettel so an die Tür, daß ihn
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