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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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vor sich. Er zwirbelte den Ring zwischen den Fingern. Ihm war kalt. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.
    Er schleuderte die Kette zur Seite.
    Nach einer Weile streckte er den Arm aus, als befände sich das Schmuckstück in seiner Hand. Er beschrieb ein Pendeln, ein Schwingen. Zog den Arm zurück.
    Er öffnete das Fenster, atmete tief aus und ein.
    Er trug das Foto wieder nach nebenan und warf es in die Schuhschachtel, ohne es noch einmal anzusehen. Er nahm die Kassette aus der Schlafzimmerkamera und legte sie in jene ein, die an den Fernseher angeschlossen war. Er spulte zurück.
    Er schaute aus dem Fenster. Viele der Lichter, die in den ersten Wochen gebrannt hatten, waren erloschen. Wenn alles seinen Gang ging, würde er hier in absehbarer Zeit ins Dunkel schauen. Und wenn ihm das nicht gefiel, konnte er tagsüber ausgewählte Wohnungen aufsuchen, um alle Lichter anzudrehen. Auf diese Weise konnte er die Nacht, in der die Finsternis gewonnen hatte, nach hinten schieben. Doch sie würde kommen.
    Noch immer erleuchtet war das Fenster zu der Wohnung, die er damals nach einem Alptraum besucht hatte. Dafür brannten in manchen Straßen die Laternen, die in den ersten Tagen finster geblieben waren, während in anderen Straßen die Beleuchtung an einem Abend erstrahlte, am nächsten nicht. Manche Straßenzüge lagen überhaupt jede Nacht im Dunkeln. Die Brigittenauer Lände zählte zu ihnen.
    Er schloß das Fenster. Als er einen Blick auf den blauen Fernsehschirm warf, krampfte sich sein Magen zusammen. Er hatte das Video mit Zeitschaltung aufgenommen. Möglicherweise würde er dem Schläfer drei Stunden beim Schnarchen zuhören. Aber vielleicht erlebte er auch etwas anderes.
    Das Schnarchen würde er vorziehen.
    In der Küche trank er ein Glas Portwein. Er hatte Lust auf ein zweites, doch er stellte die Flasche weg. Er räumte den Geschirrspüler ein, obwohl es so gut wie nichts einzuräumen gab. Er sammelte die zusammengedrückten Verpakkungen der Videokameras und schaffte sie in eine Nebenwohnung. Die Tür versperrte er wieder.
    Sei’s drum, dachte er, als er nach der Fernbedienung griff.
    Der Schläfer lag da und starrte in die Kamera.
    Wie spät es war, konnte Jonas nicht sehen, weil der Wecker umgefallen war. Er hatte vergessen, auf wieviel Uhr er die Zeitschaltung eingestellt hatte. Er glaubte, sich an ein Uhr nachts zu erinnern.
    Der Schläfer lag am Bettrand. Auf die Seite gedreht und den Kopf in die Hand gestützt. Kapuze trug er diesmal keine. Unverwandt starrte er in die Kamera. Bisweilen zwinkerte er, doch es geschah mechanisch, und er wandte den Blick nicht ab. Seine Miene blieb regungslos. Er bewegte keinen Arm, kein Bein, wälzte sich nicht herum. Er lag da und schaute in die Kamera.
    Nach zehn Minuten hatte Jonas das Gefühl, diesen stechenden Blick nicht länger zu ertragen. Es war ihm unbegreiflich, wie jemand so lange statuenhaft daliegen konnte. Ohne sich zu kratzen, ohne die Nase aufzuziehen, ohne sich zu räuspern, ohne die Glieder zu entlasten.
    Nach einer Viertelstunde begann er die Augen abzuschirmen wie im Kino, wenn eine gruselige Szene gezeigt wurde. Nur ab und zu linste er zwischen den Fingern hindurch auf den Bildschirm. Er sah immer dasselbe.
    Den Schläfer.
    Der ihn anstarrte.
    Jonas konnte den Ausdruck, den er in diesen Augen las, nicht deuten. Er sah keine Milde darin. Nichts Freundliches. Nichts Vertrauenswürdiges und nichts Vertrautes. Aber er sah auch keine Wut, keinen Haß, ja nicht einmal Abneigung. In diesem Blick lag Überlegenheit, Ruhe, Kälte – und eine Leere, die sich aufs deutlichste mit ihm befaßte. Die dabei eine solche Intensität erlangte, daß er an sich alle Anzeichen aufsteigender Hysterie bemerkte.
    Jonas trank Portwein, knabberte Chips und Erdnüsse, löste ein Kreuzworträtsel. Der Schläfer sah ihn an. Jonas schenkte sich nach, holte sich einen Apfel, machte Gymnastik. Der Schläfer sah ihm zu. Jonas rannte zur Toilette und übergab sich. Als er zurückkehrte, starrte ihn der Schläfer an.
    Das Band endete nach drei Stunden und zwei Minuten. Kurz wurde der Bildschirm dunkel, wechselte dann in das Hellblau, das den AV-Kanal kennzeichnete.
    Jonas streifte durch die Wohnung. Er betrachtete Flecken auf dem Kühlschrank. Er roch an Türklinken. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinter Schränke, und es hätte ihn nicht verwundert, dort Briefe zu finden. Er klopfte gegen die Wand, in die sich der Schläfer hatte hineinstemmen wollen.
    Er schob

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