Die Arbeit der Nacht
gleichmäßiges Pendeln hob an. Vor, zurück. Er hielt den Ring über einen der Jungen, Leonhard.
Er starrte auf die Kette.
Das Ganglicht erlosch. Der Schein der Taschenlampe erhellte schwach das Pult. Er schloß die Augen. Zwang sich, ruhig zu bleiben.
Der Ring schlug nicht aus.
Er zog die Hand zurück. Er schüttelte den Arm, um ihn zu entkrampfen. Er nahm die Taschenlampe vom Haken, packte das Gewehr und stampfte hinaus auf den Gang.
»Hej, hej«, rief er. »Hej, hej, hej!«
Er schaltete das Ganglicht ein. Drehte sich im Kreis. Blieb einige Sekunden stehen, kehrte zum Abteil zurück.
Er wiederholte den Versuch. Über ihm selbst: Pendeln. Über Leonhard – nichts.
Er hielt die Kette über den dritten Jungen. Während er wartete, grübelte er, wie dessen Name gelautet hatte.
Der Ring stand starr.
Was ist das alles für ein Unsinn, dachte er.
Er nestelte am Verschluß des Kettchens, um den Ring abzuziehen. Einem Impuls folgend, streckte er noch einmal den Arm aus. Er hielt die Kette über das Bild des vierten Jungen, Ingo.
Der Ring zitterte. Begann zu pendeln.
Begann zu kreisen.
Jonas führte alle vier Versuche noch einmal aus. Über ihm selbst pendelte der Ring vor und zurück, über Ingo kreiste er, über Leonhard und dem namenlosen Jungen blieb er starr.
Jonas schob das Foto zur Seite und griff nach dem Stapel, den er an den Rand seines Kartonpults gelegt hatte.
Er mit Badehose im Hinterhof. Er mit einem Pokal, den gewiß nicht er selbst gewonnen hatte. Er mit zwei Skistöcken. Er vor einer riesigen Coca-Cola-Plakatwand. Er mit Mutter vor dem Eingang seiner Volksschule.
Er legte das Foto auf das Pult. Streckte den Arm aus. Hielt die Kette über sein eigenes Bild.
Kurz beschrieb der Ring einen Kreis, wohl weil Jonas den Arm nicht ruhig genug gehalten hatte, ging dann wieder in das gewohnte Vor- und Zurückschwenken über.
Er hielt den Arm über Mutters Gesicht.
Starre, dann Kreisen.
Fotos von ihm mit Mutter, von ihm mit Fußball, von ihm mit Tomahawk und Indianerfeder. Von Mutter allein, von Mutter in Wanderkleidung. Von seiner Großmutter, die 1982 gestorben war. Von zwei Männern, an die er sich nicht erinnerte.
Er hielt das Pendel über die Gestalten. Beide Male kreiste der Ring. Ebenso über dem Bild seiner Großmutter.
Fotos von Kanzelstein. Er mit Mutter im Garten beim Sauerampfersuchen. Er mit Pfeil und Bogen auf den Feldern unterwegs. Er am Steuer von Onkel Reinhards VW Käfer. Er am Tischtennistisch, dessen Platte ihm bis zur Brust reichte.
Endlich ein Foto von ihm mit einem Mann, dessen Kopf vom oberen Bildrand abgeschnitten war. Er legte es auf das Pult.
Über dem Abbild seines eigenen Gesichts schwang der Ring vor und zurück.
Über dem Bild des Mannes an seiner Seite blieb er starr.
Vielleicht lag es daran, daß der Kopf nicht abgebildet war. Hastig durchsuchte Jonas den Stapel, bis er ein Foto gefunden hatte, das auch das Gesicht seines Vaters zeigte. Er wiederholte den Versuch.
Der Ring stand still.
Erschöpft und hungrig sank Jonas auf die Matratze. Die zerlumpte Decke, die er aus dem Lastwagen geholt hatte, breitete er sich über die Füße. Er hatte nicht auf die Zeit geachtet, und nun war es schon dunkel. Seit seinem Ausflug zum Mondsee vermied er es, sich nachts im Freien aufzuhalten. Und im Hinblick auf die Beklemmung, die er in der Brigittenauer Lände gefühlt hatte, verspürte er erst recht keine Lust, zu dieser Stunde nach Hause zurückzukehren.
Er räusperte sich. In der leeren Wohnung hallte der Klang wider.
»Ja, ja«, sagte er laut und drehte sich auf die Seite.
Vom Boden, der mit Papierschnipseln und zusammengeknüllten Klebestreifen übersät war, nahm er einen der Fotostapel aus der Schachtel, die er aus dem Keller mitgebracht hatte. Die Bilder waren ungeordnet. Fotos aus verschiedenen Jahrzehnten steckten zusammen, zehn Fotos zeigten fünf unterschiedliche Schauplätze. Zwei Schwarzweißbildern folgten drei in Farbe, die nächsten stammten wieder aus den späten fünfziger Jahren. Auf einem Foto riß er an den Gitterstäben seiner Gehschule, auf dem nächsten wurde er gefirmt.
Er betrachtete ein Bild, das laut Beschriftung eine Woche nach seiner Geburt aufgenommen worden war. Er lag auf dem Bett der Eltern. Auf jenem Bett, auf dem er auch in diesem Moment lag. Eine Decke hüllte ihn ein. Nur Kopf und Hände waren zu sehen.
Dieser Kahlkopf war er gewesen.
Das war seine Nase.
Das waren seine Ohren.
Dieses verkniffene Gesicht, das war seines.
Er
Weitere Kostenlose Bücher