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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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Playtaste. Wieder sah er die erstarrte Lände. Er wartete. Nach einigen Minuten war entfernt das Brummen eines Motors zu hören, das sich rasch näherte. Der Spider kam ins Bild. Fuhr mit verbeulter Front auf die Kamera zu. Brauste vorbei.
    Verlassen lag die Straße da. Wind bewegte sanft die Äste der Bäume, die die Lände säumten.
    Jonas spulte zum Anfang zurück. An der Kamera drückte er auf Start, am Videorekorder die Aufnahmetaste. Genau in dem Moment, als der Wagen aus dem Bild raste, stoppte er die Aufnahme. Er nahm Band 1 heraus, legte Band 2 ein. Es zeigte die Fahrt vom Balkon aus. Er drückte die rote Taste. Wieder stoppte er in dem Moment, als der Spider das Bild verließ.
    Das dritte Band stammte aus der zweiten Balkonkamera. Sie hatte die Heiligenstädter Brücke gefilmt. Er mußte zweimal zurückspulen, um exakt jenen Moment zu erwischen, in dem der Wagen ins Bild kam. Der Spider verschwand auf der anderen Seite des Kanals. Jonas stoppte die Aufnahme. Das Band in der Kamera ließ er laufen.
    Er blickte auf die unbelebte Brücke.
    Was er sah, hatte noch kein Mensch gesehen. Das Brükkengeländer, das Wasser des Donaukanals. Die Straße, die blinkende Ampel. An jenem Tag kurz nach 15 Uhr. Es war aufgenommen worden, doch kein Mensch war in der Nähe gewesen. Diese Aufnahme war ohne menschlichen Zeugen von einer Maschine gemacht worden. Spaß daran hatten allenfalls die Maschine selbst und ihre Motive gehabt. Die leere Straße. Die Ampel. Die Sträucher. Sonst niemand.
    Aber diese Bilder waren der Beweis, daß diese Minuten existiert hatten. Sie waren vorbei. Wenn er jetzt zur Brücke hinauflief, würde er eine andere Brücke, eine andere Zeit antreffen, als er hier sah. Doch es hatte sie gegeben. Auch ohne daß er anwesend gewesen war.
    Er schob Band vier ein. Es folgten fünf, sechs, sieben. Er kam zügig voran. Bisweilen erhob er sich, um sich das Glas vollzuschenken, einen Snack zu machen oder sich einfach die Beine zu vertreten. Er hielt sich nicht lange auf. Als er die Kassette abspielte, die den Gaußplatz zeigte, war es draußen dunkel geworden.
    Der Spider berührte ein geparktes Auto. Er geriet ins Schlingern. Rammte einen Wagen auf der anderen Straßenseite, um wieder über die Straße zu schleudern und frontal in einen Van zu krachen. Der Anprall war so gewaltig, daß Jonas vor dem Bildschirm erstarrte. Der Spider wurde in den Kreisverkehr katapultiert, wo er sich mehrmals um die eigene Achse drehte und schließlich liegenblieb.
    Eine Minute geschah nichts. Noch eine verging. Und noch eine. Dann stieg der Fahrer aus, ging nach hinten, öffnete den Kofferraum, untersuchte etwas. Er ging zurück und setzte sich ans Steuer.
    Nach drei Minuten fuhr der Wagen weiter.
    Jonas hatte den Ausschnitt noch nicht auf die Videokassette überspielt. Er spulte zurück, doch auch jetzt drückte er die Aufnahmetaste nicht. Ungläubig verfolgte er den Unfall. Wie der Fahrer ausstieg, sich umsah, ob er beobachtet wurde, und nach hinten ging. Wieso tat er es? Was hatte er im Kofferraum zu schaffen?
    Und wieso konnte sich Jonas nicht daran erinnern?
    Um halb zwölf war die Kassette fertig. Die zweite Umrundung hatte er dann doch nicht überspielt. Vielleicht würde er es ein anderes Mal nachholen, einstweilen genügte ihm eine Fahrt. Ansehen würde er sie sich bei passender Gelegenheit.
    Das Glas in der Hand, streifte er durch die Wohnung. Er dachte daran, wie viele Jahre er hier gelebt hatte. Er kontrollierte, ob zugesperrt war. Er las Maries Kurznachrichten in seinem Mobiltelefon. Er rollte die verspannten Schultern. Im Schlafzimmer betrachtete er das Messer in der Mauer.
    Er putzte sich die Zähne. Dabei blickte er in den Spiegel. Er zuckte zusammen, als er seine Augen sah. Während die Bürste summend in seinem Mund die Zahncreme aufschäumte, schaute er zu Boden. Er spuckte aus. Gurgelte.
    Er ging zurück ins Schlafzimmer. Er packte den Griff und zog mit aller Kraft. Das Messer bewegte sich keinen Millimeter.
    Auf Knien untersuchte er den Teppich. Nach einer Weile glaubte er zu erkennen, daß der Boden unter dem Messer eine Spur sauberer war als ringsum.
    Er hob den Staubsauger vom Schlafzimmerschrank, wo er das sperrige Gerät aus Platzmangel aufbewahrte. Er zog den Staubsack heraus, ging ins Bad und leerte den Inhalt in die Wanne. Staub stieg auf, er mußte husten. Er hielt sich die Hand vor das Gesicht. Mit der anderen stocherte er in dem kompakten Block aus Staubflocken, Papierschnipseln und

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