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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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verändert. Die meisten Lokale und Geschäfte waren ihm unvertraut. Er zog eine der selbstbeschriebenen Karten aus der Tasche. Darauf las er: Blau . Hilfe war das keine. Er sah sich um. Nirgends war etwas Blaues auszumachen.
    Der Wind war so stark, daß er ihn von hinten anschob. Immer wieder legte Jonas einige Meter im erzwungenen Laufschritt zurück. Er blickte sich um. Es war wirklich nur der Wind. Er ging weiter. Drehte sich ruckartig um.
    Die Straße war unbelebt. Keine verdächtige Bewegung, kein Geräusch. Nur das Schleifen von Papier und leichterem Müll, vom Wind über die Straße getrieben.
    In der Nestroygasse schaute er auf die Uhr. Noch nicht einmal sechs. Er hatte genug Zeit.
    Die Wohnung war nicht versperrt. Jonas rief. Er wartete einige Sekunden, dann wagte er sich hinein.
    Hinter der Tür zu seiner Linken summte etwas. Jonas riß das Gewehr hoch, legte an. Mit dem Fuß trat er auf die Klinke. Die Tür sprang auf. Er schoß, lud durch, schoß noch einmal. Er verharrte einige Sekunden, dann stürzte er mit einem Aufschrei in das Zimmer.
    In dem sich niemand befand.
    Er stand im zerschossenen Bad, und was er gehört hatte, war die Gastherme, die das Warmwasser aufbereitete. Sein Blick streifte sein Spiegelbild über dem Waschbecken. Er sah schnell weg.
    Über den knarrenden Boden tappte er durch die Wohnung. Vom Bad zurück in den Flur. Vom Flur in die Küche. Zurück in den Flur, von da ins Wohnzimmer. Wie die meisten Altbauten war die Wohnung dämmrig. Er schaltete Licht an.
    In Schubladen suchte er nach Notizen, Briefen und ähnlichen Unterlagen. Er fand nichts. Nur Rechnungen.
    Die Vorhänge im Schlafzimmer waren zugezogen. Er drückte den Lichtschalter. Das Bild an der Wand sah er sofort. Ein ungefähr zehnjähriger Junge mit ausdruckslosem Gesicht. Ingo. Für einen Moment glaubte Jonas, der Junge lächle. Und noch etwas irritierte ihn. Er kam nicht darauf.
    »Ist hier jemand?« Seine Stimme überschlug sich.
    Im Wohnzimmer standen Fotoalben in einem Regal. Er nahm eines heraus und blätterte darin, ohne das Gewehr wegzulegen.
    Fotos aus den Siebzigern. Die gleiche schlechte Farbqualität wie auf den Bildern, die er in der Rüdigergasse gefunden hatte. Die gleichen Frisuren, die gleichen Hosen, die gleichen Hemdkrägen, die gleichen kleinen Autos.
    Mit einem Schlag wurde es draußen dunkel. Er rannte zum Fenster, polternd stürzte hinter ihm das Gewehr um. Doch es war nur eine Gewitterwolke, die sich vor die Sonne geschoben hatte.
    Er mußte sich setzen. Unaufmerksam betrachtete er in den Alben Bild um Bild. Ihm war zum Weinen zumute. Nur langsam beruhigte sich sein Herzschlag.
    Auf einem der Fotos erkannte er sich selbst.
    Er blätterte um. Fotos von ihm und Ingo. Auf der nächsten Seite wieder. Er konnte sich nicht an eine so enge Freundschaft erinnern. Zu Besuch war er hier nur einmal gewesen. Wann und wo diese Aufnahmen gemacht worden waren, konnte er nicht erklären. Der Bildhintergrund gab keinen Aufschluß.
    Aus einem der Alben rutschte ihm eine herausgerissene Zeitungsseite auf den Schoß. Sie war fleckig und vergilbt und in der Mitte gefaltet. Den meisten Raum nahmen Todesanzeigen ein.
    Unser Ingo. Im zehnten Lebensjahr. Tragischer Unfall. In tiefer Trauer.
    Betroffen legte er die Alben zur Seite. Das Bild kam ihm wieder in den Sinn. Er ging hinüber ins Schlafzimmer. Diesmal fiel ihm auf, was ihm zuvor entgangen war. Es hatte einen schwarzen Rahmen.
    Fast genauso wie die Nachricht verstörte ihn, daß er vom Tod des Spielkameraden erst fünfundzwanzig Jahre danach erfuhr. Sie hatten miteinander nur in der Vorschule zu tun gehabt. Für ihn war Ingo all die Jahre über am Leben gewesen, und er hatte sich zuweilen gefragt, was wohl aus dem blonden Jungen aus der Nachbarschaft geworden war. Augenscheinlich war über das Unglück wenig gesprochen worden. Seine und Ingos Eltern konnten einander nicht gekannt haben, sonst hätten sie darüber geredet.
    Wie war es geschehen?
    Ein weiteres Mal durchstöberte er die Schubladen im Wohnzimmer. Er schüttelte die Alben, doch nur das eine oder andere lose Foto fiel heraus. Er suchte nach einem Computer, doch für die moderne Technik schienen die Lüschers wenig übriggehabt zu haben. Es gab nicht einmal einen Fernseher.
    Die Mappe lag im Nachtkästchen. Sie enthielt Zeitungsausschnitte. Unfall: Kind getötet. Motorrad stieß Jungen nieder: tot.
    Er las jeden einzelnen Artikel. Was der eine verschwieg, erwähnte der andere, und bald konnte er sich ein

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