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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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der nach zwanzig Jahren zu diesem Heft zurückkam, sich fragte, wieso er es nicht früher gefunden hatte. Das Heft. Und die Erinnerung.
    Er blickte zum Bildschirm. Der Schläfer regte sich nicht.
    Auf einer Seite waren den Figuren mit Kugelschreiber Brillen gezeichnet worden. Er erinnerte sich nicht daran, es getan zu haben.
    Er begann den Comic zu lesen. Schon auf der ersten Seite mußte er schmunzeln. Er las mit wachsendem Vergnügen. Zum Fernseher blickte er nur noch automatisch. Er ergötzte sich an der Absurdität der Handlung, an den Charakteren, an den Zeichnungen. Als er wieder einmal zum Fernseher schaute, war der Bildschirm blau. Unverzüglich legte er die dritte Kassette ein. Der Schläfer schlief. Jonas drückte den Knopf für die doppelte Geschwindigkeit.
    Er las den Comic zu Ende. Einige Male mußte er auflachen. Nachdem er die letzte Seite gelesen hatte, blätterte er noch eine Weile frohmütig im Heft. An diese Folge konnte er sich nicht erinnern. Alles war ihm erschienen, als lese und sehe er es zum erstenmal. Was ihn erstaunte. Denn als er in eines seiner Kinderbücher hineingelesen hatte, waren ihm Handlung und Personen sogleich vertraut gewesen.
    Der Schläfer schlief. So tief und ruhig, daß Jonas prüfte, ob er den Zeitraffer eingeschaltet hatte.
    Er schlichtete Bücher in die Regale. Ab und zu weckte eines sein Interesse, und er schmökerte darin. Er blickte zum Bildschirm. Er sah sich um, ob er schon soweit war, daß er sich die Pause erlauben durfte. Er las weiter, bis seine Neugier befriedigt war.
    Karton um Karton segelte zusammengefaltet in den Hinterhof. An der Kamera drückte er auf Pause, um im Bad die Waschmaschine anzuschließen. Bei dieser Gelegenheit hängte er Handtücher an die Haken neben dem Waschbecken. Im Zimmer schaltete er auf Wiedergabe und ging daran, die persönlichen Wertgegenstände seines Vaters zu ordnen. Einige Ringe. Die Orden. Den Paß. Kleinere Andenken. All dies legte er in die Schublade, in der sie jahrzehntelang aufbewahrt worden waren. Nur das Messer fehlte, es steckte in der Wand. Einige Fotos gingen ihm auch ab. Eventuell fand er sie im Keller in der Rüdigergasse.
    Der Gedanke an das Messer, das nicht aus der Mauer zu ziehen war, bekümmerte ihn. Zum erstenmal seit Wochen war seine Stimmung heller, er wollte sie sich nicht verderben lassen. Er nahm einen anderen Comic zur Hand.
    Er ließ den Blick durch den Raum wandern. Eigentlich war er fertig. Es gehörte vielleicht noch etwas gewissenhafter geputzt, doch das konnte er an einem anderen Tag erledigen.
    Er legte sich aufs Bett. Er nahm sich Erdnüsse. Das Band lief mit doppelter Geschwindigkeit, das Display zeigte 2:30 Stunden an. Er schaltete auf normale Wiedergabe. Den Kopf dem Fernseher zugewandt, drehte er sich bequem auf den Bauch und begann zu lesen. Lustvoll zerbiß er eine Nuß.
    Aus den Augenwinkeln nahm er auf dem Bildschirm Bewegung wahr.
    Seit 2:57 Stunden lief das Band. Der Schläfer wickelte sich aus der Decke und setzte sich an den Bettrand. Einen Meter entfernt von der Stelle, an der Jonas lag. Der Schläfer wandte sich der Kamera zu. Sein Blick war klar.
    Jonas setzte sich auf. Drehte lauter. Sah den Schläfer an.
    Der Schläfer zog eine Braue hoch.
    Um seine Mundwinkel zuckte es.
    Er schüttelte den Kopf.
    Er fing an zu lachen.
    Immer stärker, immer lauter lachte er. Es war kein künstliches Gelächter. Er schien etwas aufrichtig komisch zu finden. Er rang nach Luft, lachte und lachte. Er bemühte sich um Fassung. Aufs neue mußte er lachen. Kurz vor Ende des Bandes hatte er sich in der Gewalt. Er blickte geradeaus in die Kamera.
    Dieser Blick war so fest, wie es Jonas an keinem Menschen je erlebt hatte. Schon gar nicht bei sich selbst. Ein Blick so voller Entschlossenheit, daß Jonas sich überwältigt fühlte.
    Der Bildschirm wurde blau.
    Jonas streckte Arme und Beine aus. Er starrte zur Decke.
    An die er vor zwanzig Jahren gestarrt hatte, an die er vor drei Wochen gestarrt hatte.
    Schon als Kind hatte er hier gelegen und über sein Ich nachgedacht. Über das Ich, das gleichbedeutend war mit dem Leben, in das jeder einzelne eingesperrt war. Wenn man mit einem Klumpfuß geboren wurde, hatte man den das ganze Leben lang. Wenn einem die Haare ausgefallen waren, konnte man zwar eine Perücke aufsetzen, doch man selbst wußte ganz genau, daß man ein Kahlkopf war und diesem Los nicht entkommen konnte. Wenn einem alle Zähne gezogen worden waren, würde man bis an sein Ende nie mehr mit

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