Die Arbeit der Nacht
eigenen Zähnen kauen. Litt man an einer Behinderung, mußte man damit zurechtkommen. Man mußte mit allem zurechtkommen, was nicht zu ändern war, und die meisten Dinge waren nicht zu ändern. Ein schwaches Herz, ein empfindlicher Magen, eine krumme Wirbelsäule, das war das Individuelle, das war das Ich, es gehörte zum Leben, und in dieses Leben war man eingesperrt, und man würde nie erfahren, wie es war und was es bedeutete, ein anderer zu sein. Nichts konnte einem vermitteln, was ein anderer beim Erwachen empfand oder beim Essen oder bei der Liebe. Man konnte nicht wissen, wie das Leben ohne die Rückenschmerzen, ohne das Aufstoßen nach den Mahlzeiten sich anfühlte. Das eigene Leben war ein Käfig.
Er hatte als Kind dagelegen und sich gewünscht, eine Comic-Figur zu sein. Nicht Jonas wollte er sein mit dem Leben, das er hatte, mit dem Körper, in dem er steckte. Sondern Jonas, der zugleich Fred Clever oder Jeff Smart war oder beide oder jedenfalls als Freund mit ihnen in ihrer Wirklichkeit. Mit den Regeln und Naturgesetzen, die in ihrer Welt herrschten. Sie bekamen zwar ständig Prügel, erlitten Unfälle, sprangen aus Hochhäusern, wurden verbrannt, zerteilt, gefressen, sie explodierten und wurden zu fernen Planeten geschleudert, doch sie konnten sogar dort atmen, die Explosionen töteten sie nicht, und abgehackte Hände wurden wieder angenäht. Gewiß, sie litten Schmerzen. Doch im nächsten Bild waren diese Schmerzen vorbei. Sie hatten viel Spaß. Es mußte lustig sein, sie zu sein.
Und sie starben nicht.
Die Zimmerdecke. Nicht Jonas, sondern sie zu sein. Über einem Raum zu hängen, in dem Menschen umhergingen, jahraus, jahrein. Die einen verschwanden, andere kamen. Er hing dort oben, die Zeit sickerte weiter, ihn kümmerte es nicht.
Ein Stein am Meer zu sein. Das Rauschen der Wellen zu hören. Oder nicht zu hören. Jahrhundertelang am Ufer zu liegen, dann von einem Mädchen ins Wasser geschleudert zu werden. Um nach weiteren Jahrhunderten herausgespült zu werden. An den Strand. Auf die zu Sand zerriebenen Muscheln.
Ein Baum zu sein. Als er gepflanzt wurde, herrschte Heinrich der Erste oder der Vierte oder der Sechste, und dann kam ein Leopold oder ein Karl. Der Baum stand in der Wiese, die Sonne schien auf ihn, abends sagte er ihr auf Wiedersehen, nachts kam der Tau. Morgens stieg die Sonne herauf, sie grüßten, und ihn kümmerte es nicht, ob tausend Kilometer entfernt ein Shakespeare umherging oder eine Königin geköpft wurde. Ein Bauer kam und beschnitt die Äste, und der Bauer hatte einen Sohn, und der Sohn hatte wieder einen Sohn, und der Baum stand da und war nicht alt. Hatte keine Schmerzen, hatte keine Furcht. Napoleon wurde Kaiser, und den Baum rührte es nicht. Napoleon kam vorbei, lagerte im Schatten des Baumes, und es war dem Baum egal. Und als später ein Kaiser Wilhelm kam und den Baum berührte, wußte er nicht, daß Napoleon den Baum berührt hatte. Und dem Baum waren Napoleon und Wilhelm gleichgültig. So wie der Ururenkel des Ururenkels des ersten Bauern, der gekommen war, ihm die Wassertriebe zu beschneiden.
So ein Baum sein, der zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf der Wiese gestanden war, und zu Beginn des Zweiten, und in den Sechzigern, den Achtzigern, den Neunzigern. Der jetzt dastand und um den der Wind wehte.
Die Sonne blinkte durch die Jalousien. Jonas versperrte die Tür, durchsuchte die Wohnung. Neben der Garderobe stellte er das Gewehr ab. Niemand schien hiergewesen zu sein. Das Messer steckte unverändert in der Mauer. Er zog daran. Es saß fest.
Er machte sich etwas zu essen. Danach trank er Grappa. Er lehnte sich aus dem Fenster. Mit geschlossenen Augen genoß er die Sonnenstrahlen.
Acht Uhr. Er war müde. Schlafen gehen durfte er nicht, es gab so viel zu tun.
In der Nachbarwohnung ließ er die Kameras aufschnappen. Jede Kassette numerierte er. Mit den Bändern 1 bis 26 als Stapel vor der Brust, balancierte er zurück in die eigene Wohnung. Er schob eine unbespielte Videokassette in den Rekorder. In die Kamera legte er Band 1 ein.
Auf dem Fernsehbildschirm erschien der Spider in voller Fahrt, wie er durch die Brigittenauer Lände auf die Kamera zubrauste. Als er vorbeifuhr, war das Motorengeräusch so betäubend, daß Jonas erschrocken leiser drehte.
Kaum noch war das Dröhnen zu hören. Kurz darauf herrschte Stille.
Der Schirm zeigte die verlassene Lände.
Nicht die geringste Bewegung war zu sehen.
Er spulte vor. Drei, acht, zwölf Minuten. Er drückte die
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