Die Arbeit der Nacht
er, dann griff er zu.
Innerhalb einer Stunde hatte er den ganzen Lastwagen ausgeräumt. Alles stand in der Wohnung. Alle Stühle, alle Regale, alle Schränke, alle Kartons. Ungeordnet zwar, doch mußte er nun nicht mehr das Haus verlassen. Er konnte sich neben der Arbeit die Bänder von vergangener Nacht ansehen.
Nicht ganz drei Stunden benötigte er, um alle Möbelstücke sauber zu wischen, auf Beschädigungen zu überprüfen und an ihren Platz zu rücken. Während neben ihm im Fernseher der Schläfer schlief, polierte Jonas den Lampenschirm, besserte ein Loch im Fauteuil aus und schliff Kratzer am Schrank ab. Bei jeder Gelegenheit schaute er zum Fernseher.
Der Schläfer schien eine ruhige Nacht gehabt zu haben. Ab und zu drehte er sich herum. Die meiste Zeit lag er friedlich da. Sogar Schnarchen meinte Jonas zu hören. Er fragte sich, wieso er so müde war.
Zwischen Kassette 1 und 2 machte er Pause. In einer Küchenlade fand er ein Fertiggericht. Er wärmte es in einem kleinen Wok. Es war ungenießbar. Er fügte Sojasauce und Gewürze hinzu. Ohne Erfolg. Mit steinerner Miene trieb er den Öffner in eine weitere Dose Bohnensuppe.
Die zweite Kassette begann, wie die erste geendet hatte. Er spielte sie im Zeitraffer ab. Währenddessen räumte er ein. Auch in der Küche hatte er zu tun. Von dort war ihm die Sicht zum Fernseher verstellt, daher wechselte er für diese Minuten in die normale Wiedergabe und drehte die Lautstärke auf Maximum. Zusätzlich huschte er alle zwei Minuten hinüber ins Zimmer, um sich zu vergewissern, daß der Schläfer noch immer unter der Decke vergraben lag. Rechts stand das Bett, links gegenüber spiegelte es sich verkleinert im Fernseher. In diesem Spiegel lag er selbst und schlief.
Alles Geschirr von Familie Kästner wanderte auf die Müllhalde im Hinterhof. Nur einige Pfannen und Töpfe behielt er sich, weil er bemerkt hatte, daß die Ausstattung seines Vaters zu wünschen übrigließ. Er vermißte die Tasse mit dem Bären, aus der er als Kind getrunken hatte. Von den alten Gläsern waren nur noch drei vorhanden. Und von Kochgeschirr, dessen Bedienung Sachverstand und Überlegung erforderte, wie etwa ein Schnellkochtopf oder eine Munterkanne, schien sich sein Vater getrennt zu haben.
Er schaltete erneut auf doppelte Wiedergabegeschwindigkeit. Egal, was ihm noch bevorstand: Es erwies sich als unmöglich, seinen Schlaf lückenlos zu filmen und dann tagsüber gewissenhaft die Aufzeichnung zu betrachten. Es würde bedeuten, nichts mehr zu tun, als zu schlafen und sich dann beim Schlafen zuzusehen. Er würde nichts mehr unternehmen können, er wäre an die Kameras festgebunden.
Gegen Ende der zweiten Kassette, als der Schläfer noch immer regungslos unter der Decke lag, fühlte sich Jonas zum Narren gehalten. Seine Bewegungen wurden langsamer. Er stopfte Wäsche in Schubladen, ohne sich um Bügelfalten zu kümmern, er knallte Schranktüren zu. Bis er in einem Bücherstapel einige seiner alten Comic-Hefte entdeckte, die ihm beim Einpacken nicht aufgefallen waren.
Er mochte Comics. Auch als Erwachsener hatte er sich beizeiten das eine oder andere Clever & Smart-Magazin gekauft, ohne sich zu schämen. In der Brigittenauer Lände lag sogar jetzt eines auf der Toilette. Diese Hefte jedoch waren etwas Besonderes. Er blätterte darin wie in einer gesuchten Rarität. Jedem Eselsohr, jedem Marmeladefleck schenkte er Aufmerksamkeit. Als er dieses Heft zuletzt in die Hand genommen hatte, war er zwölf Jahre alt gewesen oder höchstens vierzehn. Zwanzig Jahre waren vergangen seit das Brot abgeschnitten worden war, mit dessen Belag er diese Seite verschmiert hatte. Zwei Jahrzehnte war dieses Heft in einem Regal gestanden und nicht aufgeschlagen worden. An einem bestimmten Tag hatte Jonas es zugeklappt, weggeräumt und nicht mehr daran gedacht. Und er hatte keine Ahnung gehabt, wie lange es dauern würde, bis er dieses Panel, diese Sprechblase wiedersah. Erst jetzt kehrte er zurück.
Launig , stand mit kindlicher Handschrift an den Rand einer Seite gekritzelt.
Er hatte das geschrieben. Warum, wußte er nicht. Nur, daß er es geschrieben hatte. Daß es zwanzig Jahre her war und daß er damals so vieles noch nicht gewußt hatte. Daß dieses »Launig« von einem Jungen geschrieben worden war, der nichts von Mädchen wußte, der später Physik studieren und Lehrer oder Professor werden wollte, der sich für Fußball interessierte und dem womöglich eine Mathematikarbeit ins Haus stand. Und daß der,
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